Herausforderungen eines neuen Blickes
Dr. phil. Tom Huhn mit Lehramt für Ästhetik und Philosophie an der School of Visual Arts (NYC) führt uns im Hinblick auf die Malerei des Neue Leipziger Schule Malers Aris Kalaizis' in seinem Essay an die Bruchstelle zwischen Fotografie und Malerei
Die jüngsten Arbeiten des Leipziger Malers Aris Kalaizis konfrontieren uns mit einem zentralen, unvermeidlichen Phänomen unserer visuellen Orientierung: der Irritation, die bei dem Versuch entsteht, Dinge und Situationen anders als unter einer fotografischen Sehweise zu betrachten. Diese Annahme verstärkt sich bei intensiver Betrachtung der Bilder als durchgängiges Motiv in Kalaizis' Werken, sowohl in der Themenwahl als auch der künstlerischen Ausführung, als verwiesen beide Elemente auf die Fotografie als das Medium, welches die Welt ausschließlich auf sichtbare Information reduziert und damit, infolge der Allgegenwärtigkeit der Fotografie, Erfahrung nur in dieser Dimension zulässt.
Weshalb aber sollte irgendjemand, in diesem Fall Kalaizis in seinen Bildern, gegen die Fotografie Protest erheben, worin besteht ihr vermeintlich Gefährliches? Können wir sie nicht schlicht ignorieren und ganz pragmatisch die Komponenten, die uns fruchtbar erscheinen, nutzen? Die Antwort nimmt Bezug auf eine Grundvoraussetzung der Fotografie und der daraus resultierenden, verfälschenden und täuschenden Schlussfolgerung: weil Fotografien die Welt so wiedergeben, als sei sie widerspruchsfrei und geordnet, muss diese Welt, die ja schließlich das Ausgangsmaterial für jede Ablichtung liefert, ebenso homogen und strukturiert sein.
Fotos unterlaufen somit die These, dass alles, was in ihnen zu sehen ist, zwangsläufig etwas Produziertes, Konstruiertes, oder anders gesagt, ein Bild ist. Das fotografische „Bild“ ist eine Art Widerspruch in sich, ein Oxymoron, da die Fotografie von vornherein die artifizielle Natur des Lichtbildes leugnet. Der Vorwurf besteht mithin nicht darin, dass der Fotografie die Hand des Malers, Zeichners oder Kupferstechers fehlt oder dass der Fotoapparat diese wie auch immer ersetzen will (nicht einmal, dass man sich am Aussehen des Bildes stört); der Einwand ist vielmehr, dass genau diese Abwesenheit zum Fundament der Fotografie für die Wirkungen ihrer vermeintlichen Bildes wird.
Streng genommen ist das, was die Fotografie bietet, kein Bild, sondern die Anhäufung bildartiger Komponenten, die in ihrer Gesamtheit erst die Illusion eines Bildes erschaffen. Das ist, was Roland Barthes mit seiner berühmt gewordenen Begriffsprägung als “punctum” einer jeden Fotografie bezeichnete: die Wunde (Barthes spricht von einem kleinen Schnitt oder Loch; Anm. d. Übers.), sich selbst der Chance beraubt zu haben, ein echtes Bild zu sein. Unbeschadet dessen besteht aber gerade das Fesselnde an den meisten Fotografien in dieser bauchrednerischen Illusion. Wie die Puppe auf dem Schoß des Realen, scheinen die Fotos zu sprechen, sogar wie Bilder, aber der Ursprung dessen, der sie für uns so wirklichkeitsnah erscheinen lässt, liegt anderswo, entfernt und vergangen. Aus diesem Grund beinhalten Fotografien gleichzeitig Unheimliches, aber eben auch fast immer Banales.
Kalaizis’ Gemälde arbeiten intensiv mit und gegen beide Seiten des fotografischen Bildes: das Unheimliche, das so überaus bedeutsam anmutet, und das Banale, in dem die Bedeutung so offensichtlich verflacht. Fast jedes der aktuellen Bilder kann als Beweisstück dafür dienen, so auch exemplarisch Pentagrass. Die wächsernen Schutzanzüge der drei Figuren sind eine Anspielung auf das Schicksal des Fleisches unter dem Régime der Kamera, wobei Fleisch die Verheißung für Zähigkeit, Glanz und stetige Geschmeidigkeit übernimmt (hat Fleisch jemals all das versprechen können in einem Foto).
Die wächserne Oberfläche jedoch bietet uns zwei mögliche Interpretationen: einmal in Richtung auf die vorgeblich konservierte Frische des in Wachs gehüllten Fruchtfleisches, zum anderen auf die wächsernen Hautflächen menschlicher Leichen. Die Materialität der Katastrophenanzüge erlaubt es Kalaizis die sonst eher verhaltene Darstellung wachsbleicher Haut in vielen seiner anderen Bilder – z.B. in Nike und Psemata – weit plastischer wiederzugeben. Im Vordergrund von Pentagrass, dort wo sich die Perspektive des Bildes entwickelt, sind die Kreideumrisse eines Mordopfers zu sehen. Bemerkenswerterweise setzt eine der Schutzanzug tragenden Personen einen Fuß auf den Kopf des Umrisses, als würde er eine Missachtung der gezeichneten Figur des Opfers oder gar eine Komplizenschaft bei deren Vernichtung demonstrieren wollen. Der von links ins Bild kommende Schlauch umkreist die drei Personen wie die Schlange der Laokoon-Gruppe und tritt ins Bild dort, wo er gleichsam den Kreideumriss enthauptet. Der Schlauch fungiert darüber hinaus als Erzählung über gegenständliche Malerei und Fotografie, indem die Figuren abwechselnd mit und gegen ihn kämpfen. Der Schlauch mag auch die Dauerhaftigkeit der Traditionen gezeichneter und gemalter Figuren aufzeigen – kein Wunder, dass der Schlauch quasi fotografisch behandelt werden muss als sei er selbst giftig. Möglich auch dass der Schlauch den Gegenentwurf zu dieser Tradition in sich trägt. Oder wird er, wenn auch widerstrebend, in die neue Tradition, der der Fotografie gezerrt? Nimmt man die Kreideumrisse des Opfers, auch ohne die Leiche selbst zu sehen, die nicht erkennbare Veranlassung für den Einsatz der Katastrophenanzüge, das leichenartige Aussehen der Schutzkleidung, die Anspielung auf die Laokoon-Gruppe usw. gewinnt man zusammenfassend den Eindruck, dass hier das Leblose des fotografischen Bildes präzise gezeigt, ja überzeichnet wurde. Sofort drängt sich jedoch die Frage auf, welches Leben, welche Art von Lebendigkeit, mehr noch, welcher vitale Antrieb diesenTodesreigen so ausdrucksstark werden lässt. Oder, um es psychoanalytisch auszudrücken, wie müssen wir uns diesen unbedingten Lebensdrang vorstellen, der sich so kompromisslos gegen den im Bild vielfältig lauernden Tod stellt.
Einen anderen Ansatz in der Begegnung mit der fotografischen Sehweise finden wir anhand der Leerstelle oder des Risses, der jedes Bild von Kalaizis zu strukturieren scheint. Eine allen gemeinsame Leerstelle ist der Riss im Erzählfaden eines jeden Gemäldes, gähnende Leere an beiden Seiten der abgebildeten Ereignisse: in Pentagrass geleitet der abgebildete Moment zu einem äußerst unvorhersagbaren und vor allem nicht vorhersehbaren Ort, jedoch parallel dazu auch, dass die Momentaufnahme irgendwo im Unerklärlichen und Unvorstellbaren ihren Ursprung hat. Es ist dabei nicht so, dass das Bild einen Bruch im Fortgang der Erzählung erzeugt, sondern vielmehr, dass das Bild die Illusion einer Geschichte erzeugt, ohne jedoch dafür unabdingbaren Kompositionselemente zur Verfügung zu stellen. Man kann das Resultat folgerichtig am ehesten als “erzählungsähnlich” charakterisieren. Jedes Gemälde bedient sich dieses “als ob”-Phänomens, jedes könnte durchaus erzählerisch funktionieren, doch seltsamerweise ohne die Elemente, die geeignet wären, die Narration zu einem bestimmten Ende zusammenzuführen. Mit dieser Technik parodieren Kalaizis’ Bilder, weit radikaler als es ein einzelnes Foto je könnte, die Überzeugung von der Wahrhaftigkeit einer Geschichte, die jedem fotografischen Bild eingeschrieben zu sein scheint.
Bahren, so der Titel eines weiteren Bildes, bietet ebenfalls ein Beispiel für diese sphinxartigen Rätsel im narrativen Prozess: was oder wer könnte die halbnackte Frau veranlasst haben, knietief in einem von Autoscheinwerfern illuminierten Teich zu stehen, und was könnte als nächstes passieren? Man kann die erzählerische Diskontiunuität in jedem von Kalaizis’ jüngsten Bildern jedoch genauso überzeugend daran festmachen, dass man keine Chance erhält, festzustellen, ob das sich aufdrängende Ereignis gerade geschehen ist oder schon der Vergangenheit angehört. Die Traurigkeit, die melancholische Qualität dieser Bilder entsteht mit der Einsicht in die Unmöglichkeit einer befriedigenden Auflösung der Erzählhandlung.
Deafcon No. 1 (2006) wirft Licht auf die fotografische Abwesenheit erzählerischer Inhalte inmitten der vollkommenen Gewissheit, genau diese vorzufinden: Eine Person, ein Selbstportrait, beleuchtet eine Wand, die vollkommen frei jedweden Sinngehaltes ist. Die Person beugt sich in der Erwartung zur Wand, irgendetwas Signifikantes zu finden, das die Gewissheit untermauern könnte. Allerdings vermitteln die drei Türen des Flures mehr, dass der forschende Blick der Figur eher einen Weg durch die Wand finden wird, denn auf bedeutungsvolle Hinweise zu stoßen. Eine solch (nichtfotografische!) Andeutung würde uns jedoch reichlich verwirrt zurücklassen und zwar einfach dadurch, dass sie unser Fortschreiten durch die angedeutete Transparenz der Mauer hindurch beenden würde. In Die Verbündeten hält eine Figur, ebenfalls ein Selbstportrait, wiederum eine Lampe, in diesem Fall aber schwenkt der Maler den Lichtkegel direkt in sein Gesicht. Der unmittelbare Blick in die Lichtquelle lässt vermuten, dass das Licht hier selbst Gegenstand der Befragung ist – möglicherweise zu seiner Komplizenschaft mit der Fotografie – und nicht als selbstverständliches Element wahrgenommen oder als Mittel benutzt wird, eventuell existierende Bedeutung ans Licht zu befördern. Es sieht so aus, als beinhalte das Licht selbst das Geheimnis seiner Wirkungskraft, Bedeutung zu erhellen und hervorzubringen.
Ein Wintertag in Laibach parodiert die Suche nach dem Inhalt eines Bildes. Diese Arbeit wird noch ausdrücklicher in der Demonstration des dümmlichen Unsinns, anzunehmen, dass ein Bild Bedeutung hat und dass es nur dazu dient, dass wir es entschlüsseln. Ein Wintertag in Laibach ist ein Traumbild: alles findet in einer trostlosen Winterlandschaft statt und zeigt die Kindheitserinnerung an eine hölzerne Puppe und ihrer Bedeutsamkeit, während gleichzeitig die Nacktheit des Träumenden als Zeichen für den fortwährenden, unergiebigen Glauben an eine Erlösung durch Sinn bloßgestellt wird. Insofern ist es nahezu ein perfektes Traumbild, drückt es doch gleichzeitig die Sehnsucht des Traumes (und dessen primitiven Ursprung) aus als auch das gleichzeitige Unwohlsein (die nackten Füße im Schnee) mit diesem Verlangen.
In dem Bild Am Morgen Danach wird die Beleuchtung wieder als äußerst verwirrendes Mittel benutzt. (Wäre es übertrieben zu behaupten, dass das Auftauchen von Licht in Deafcon No. 1 und Am Morgen Danach als eine Anspielung auf die zentrale Rolle des Lichts und der Beleuchtung im fotografischen Prozess fungiert?) Der dargestellte Mann schaut hier gleichzeitig auf seine Hände und auf das Licht, das von diesen reflektiert wird. Die Quelle des Lichtes– kaum zufällig, dass es entlang einer Wand herunterfällt, an dem eine Schwarzweiß-Fotografie befestigt ist – bleibt unerheblich, wird nicht weiter verfolgt, zentraler ist, dass der Mann mit der Erwartung auf seine Hände schaut, als müssten sie das Licht fassen und folgerichtig enthüllen, was das Eigentliche des Lichtes selbst sein könnte. Aber Licht einzufangen, es fotografisch zu fixieren, kann nur durch das Aufbewahren einer toten Ablichtung des Lichts funktionieren, nicht aber eine dynamische Fortführung dessen gewähren. Was den Mann irritiert, ist die Substanzlosigkeit des Lichts. Das Bild impliziert, dass Licht nicht existiert, es sei denn, es wird irgendwie reflektiert oder umgelenkt. Die Frau, in schwarz gekleidet, mit Stiefeln, Handschuhen und einem Kopftuch, hinter dem Mann stehend, bildet als Körper und durch Umlenkung den Schatten, der dem Licht Gehalt und Fülle verleiht. Fast gänzlich in schwarze Kleidung eingehüllt, wird sie eine Chiffre für die Bedingung, dass Licht verdeckt sein muss, um seine Effekte hervorzubringen. Sie wird damit zur Muse: zur Muse der Malerei, vermute ich. Sie selbst sieht nicht, ihre Augen sind verschlossen, ihre schattenhafte Präsenz aber verleiht dem beleuchteten Raum erst Inhalt und Struktur. Das lediglich mit weißer Unterwäsche bekleidete Kind offenbart mit seiner Umklammerung ebenso die Umarmung der früheren Unschuld des noch nicht durch fotografische Prozesse befleckten Lichts.
Weitere Nachweise für die Verbreitung der strukturgebenden Leerstellen findet man im Verdopplungseffekt, der in so vielen von Kalaizis’ Bildern erscheint. Man erinnere sich erneut an die Schatten, dieses Mal jedoch nicht im übertragen Sinne sondern unmittelbar als Form, zum Beispiel in Deafcon No. 1. Dort existiert ein Zwiespalt des bildlichen Raumes zwischen dem Selbstportrait auf der linken und dessen Schatten auf der rechten Seite, parallel dazu aber auch eine Unstimmigkeit zwischen der Körperhaltung des Selbstportraits, den rechten Arm erhoben, und dem Schatten, der beide Armen nah am Körper hält. Wir müssen folgerichtig auch eine Leer zwischen dem Selbstportrait und dessen Maler in Betracht ziehen.
In Der Unentschiedene Mann gibt es eine ganze Reihe solch unverwechselbarer Ungereimtheiten in den zahlreichen, Magritte-artigen Reflexionen der sitzenden, nackten Frau. Darüber hinaus besteht noch die Bezugslosigkeit zwischen den wiederholten, rundförmigen Spiegelungen auf der linken und der opaken, unfertigen Scheibe auf der rechten Seite. Der unentschiedene Mann, der den Raum zwischen den Mehrfachspiegelungen und der sitzenden Figur einnimmt, steht so da, als versuche er sich reflektierend zwischen mindestens zwei Möglichkeiten zu entscheiden.
©2009 Tom Huhn | Aris Kalaizis
Dr. phil. Tom Huhn, geb. 1957, unterrichtet Ästhetik und Philosophie an der School of Visual arts in New York City. Er veröffentlichte u.a. "Imitation and Society: Persistence of Mimesis in the Aesthetics of Burke, Hogarth and Kant" (2004). Huhn lebt in New York City