Europa ist tot, es lebe Europa !
Ein nachdenkendes Gespräch zwischen dem Maler Aris Kalaizis und dem Verleger Stephan Schwardmann über die Vereinfachung, die Erosion der Verständigung sowie das Verschwinden der Empathie im überreizten Blick auf die Krisen Griechenlands, Europas und der arabischen Welt …
Schwardmann: In diesem Interview wird ganz entscheidend Dein Erschrecken über Europa Thema sein.
Wir haben vor, ich glaube sechs Jahren, schon einmal ein Interview geführt, in dem es eingangs um die Frage des Potentials politischer Interventionen durch die bildende Kunst ging in ihrer Fähigkeit, gewohnte Wahrnehmungen und Reflexe zu irritieren, subversiv aufzubrechen. Hat Dein Bedürfnis nach praktischer und intellektueller Intervention in diesen Zeiten auch mit Deiner Kunst zu tun? Wirkt sie hinein, kommt der Impuls gar daher?
Kalaizis: Selbstverständlich bleibe ich nicht unberührt. Die Griechenlandkrise sowie die aktuelle Flüchtlingsproblematik umtreiben mich beinahe täglich. Es vergeht praktisch kein Morgen, kein Abend, an dem ich nicht irgendetwas über diese Großkrisen lese. Trotzdem wäre es töricht, als agierender Maler oder als Künstler wie man allgemein sagt, dem Weltreiben wie ein themensuchender Wettläufer hinterher zu rennen. Dieser Wettlauf ist nicht zu gewinnen. Somit muss ich warten, bis sich ein größerer Zusammenhang abzeichnet und das Politische zugleich etwas Universales hat und somit etwas zeitgeschichtlich Umspannendes, wenn dieser Wettlauf sozusagen kein Sprint, sondern ein Marathon ist, kann ich mir schon vorstellen, ihn künstlerisch zu verwerten. Anders ausgedrückt: Ich muss als Maler das Teleobjektiv beiseite legen und das Weitwinkelobjektiv verwenden. Man vernachlässigt so ein wenig die Tagesaktualität. Nur so ist es zu erklären, warum ich 2009 mit meinem Bild „Europa“ malend agiert habe, auch wenn es mir aber lieber gewesen, die darin enthaltene Vision hätte sich nie ereignet.
…bis das Politische etwas Universales und zum Umspannenden wird
S: Du sprichst auf das Bild an, das wir in der 2009-er April-Ausgabe des kreuzer als Cover gezeigt haben.
Du hast als Sohn griechischer Emigranten, die Ende der Vierziger als Kinder und Bürgerkriegsflüchtlinge in die DDR entflohen, natürlich einen sehr speziellen Blick auf das Land Deiner Eltern. Hat sich seit der medialen, politischen und mehrheitsgesellschaftlichen Beschimpfung Griechenlands für Dich etwas verändert in der von Dir als zuverlässig empfundenen Selbstverständlichkeit im Grundverstehen gesellschaftlicher Prozesse?
K: Ich hätte nie gedacht, dass das Bild über eine Nation sich in kurzer Zeit derart ins Negative drehen kann. Das sind bittere Lebensmomente, die ich aushalten muss. Ich bin kein Mensch, der gut ignorieren kann, das Spielfeld verlässt oder die Seite wechselt, wenn der Wind sich dreht. Also muss ich vieles vertragen und mein deutsche-griechisches Naturell hilft mir dabei. Beide Elemente befinden sich aber seit meiner Geburt in einer fruchtbaren Wechselbeziehung. Immer wenn es dem Deutschen in mir nicht gut geht, kommt der Grieche und hilft. Umgekehrt verhält es sich genauso. Die plumpe Rohheit der Beschimpfungsrhetorik gegenüber Griechenland hat mich in der Tat überrascht.
Gleichsam wurde das Griechische in mir bestärkt. Entgegen vieler bin ich nicht der Meinung, dass die Medien den Anstoß für dieses Zerrbild geliefert haben, sondern einzelne Politiker mit ihren Äußerungen den Stoff für die Aufheizung geliefert haben. Keine Frage: Politik muss streitbar. Das gehört zum Ringen um das bessere Argument. Leider lässt sich aber auch beobachten, dass Politik mehr und mehr selbst skandalisiert, was mich besorgt, denn das Skandalon war früher den Medien vorbehalten. Und ja, es bleibt die bittere Erkenntnis, dass es nicht viel Bedarf, um Völker mit abstrusen Vereinfachungen zu stigmatisieren. Die andere nüchterne Erkenntnis ist, dass wir zwar in einer modernen, nicht aber in einer sonderlich aufgeklärten Gesellschaft zu leben scheinen und das besorgt mich zudem und im übrigen nicht erst seit der Griechenlanddebatte. Ich will da überhaupt nicht in Geschichtspessimismus verfallen, aber ich stelle mir zuweilen in solch medial wirksamen Zeiten, den falschen Mann zur richtigen Zeit vor und sehe den Verlauf der Geschichte auf den Kopf gestellt.
S: Könntest du ein Beispiel geben?
K: Medial ist auf beiden Seiten hochgerüstet worden. Auf der einen Seite war es totaler Quatsch Madame Merkel in Naziuniform zu zeigen. Andererseits war sich Merkel auch nicht zu schade, ein übles Ressentiment vom faulen Südländer zu stricken. Nun mag man sagen, beide Seiten haben sich nichts geschenkt. Jedoch haben die Griechen ihre Wut auf die Person Merkel und auf die Person Schäuble, nicht aber auf das deutsche Volk projiziert, während Merkels Herabwürdigung das gesamte griechische Volk stigmatisierte. Im übrigen wissen wir vor dem Hintergrund einer OECD-Studie, dass in Griechenland die Auslastung einer Arbeitsstunde mit zu den höchsten innerhalb der EU zählt. Das bedeutet freilich nicht, dass die griechische Arbeitsstunde zu den effizientesten zählt, da die Effizienz nun einmal von mehreren Faktoren beeinflusst wird.
Und letztlich habe ich doch auch als Sohn griechischer Vorfahren das Wissen, wie hart meine Eltern, samt ihrer Familien aus denen sie kamen, gearbeitet haben.
S: Ich entnehme dem auch die kritische Einschätzung, dass Massenmedien eine Art Einheitsmeinung verbreiten und Widersprüche häufig ausklammern?
K: Natürlich ist darin ein Stück weit Medienkritik, da Medien, hinter denen ja letztlich Menschen stehen, leider zu oft – so zumindest aus meiner Wahrnehmung – als bloßer Verstärker einzelner Politiker oder politischer Strömungen fungieren. Journalismus darf sich nicht in einer unfiltrierten Wiederkäuermentalität etablieren. Andernfalls kommt der Demokratie allmählich ihrer Fähigkeit zur Selbstkontrolle abhanden. Ich kann ein kleines Beispiel aus dem Bereich sogenannter Bildungsmedien geben. Ich höre beinahe täglich den Deutschlandfunk. In den Nachrichten des Senders liest der Sprecher eine beliebige Nachricht – sagen wir zur Eurokrise – vor. Danach wird noch fix ein Politiker zitiert, der zu diesem Thema Position bezieht und die Sache ist abgehakt. Klar, was dabei zumeist entsteht, ist Meinung. Der Zuhörer soll agitiert werden. Richtiger wäre es aber, die Meinung des einen Politikers der Partei X mit einer Meinung eines anderen Politikers der Partei Y zu konfrontieren. Der Hörer müsste nun selbst aktiv werden, um so etwas wie eine Haltung zu entwickeln. Daraus würde ein Schuh werden. Vermutlich hat es damit zu tun, dass nicht nur im Bundestag eine große Koalition regiert, sondern auch im Medienbereich eine Allianz, eine Art Print- und Medienkoalition besteht, die zumeist recht einhellig polemisiert. Die Gefahr besteht aber, dass immer mehr Menschen und ich fürchte, nicht nur am rechten Rand, sich von dieser Medienkoalition abwenden.
S: Deine Medienkritik ist sicher richtig, aber die Phänome, die Du beschreibst sind ja nicht erst seit der Berichterstattung über Griechenland medialer Alltag. Was würde Deiner Meinung nach passieren, wenn sich Menschen, wie Du befürchtest, von den etablierten Meinungsleitmedien mehr und mehr zurückziehen und gesellschaftliche Debatten, das Ringen um Konsens möglicherweise auf anderen Wegen stattfindet?
…die Gesellschaft in den Köpfen nach rechts driftet, während sie nach außen weiterhin links argumentiert
K: Meine Antwort ist recht simpel: Die alten Meinungsleitmedien werden sukzessive durch neue, kleinere ersetzt. Das bedeutet auch, dass Deutungshoheiten abnehmen werden. Angst haben muss man davor nicht, wenngleich wir vermutlich immer meinungsmachenden Medien begleitet werden. Das Internet stellt ja im Grunde keine Gefahr für die Demokratie dar. Ganz im Gegenteil: Diese Plattform ist in sich demokratischer, weil in ihr eine Beteiligungsoffenheit angelegt ist, die es so vorher nicht gab. Wir müssen dabei nur lernen, auch mit demokratieabgewandten Meinungen zu leben, ohne – wie es in Deutschland üblich ist – gleich die Verbotskeule zu schwingen. Es gibt keinen Grund pessimistisch zu sein, auch wenn Journalismus im digital age heute schneller produziert werden muss und Verlage unter zunehmenden Schwierigkeiten leiden. Journalisten, die ans Eingemachte gehen möchten, die tief in das innere eines Problemfeldes dringen möchten, wird es immer geben. Es wird an uns Lesern liegen, wie wir mit dieser neuen Verantwortung umgehen. Wollen wir diese Verantwortung nutzen, sollten wir als Leser aktiver werden.
S: Hast Du dich selbst dadurch verändert?
K: Ich glaube schon. Ich misch’ mich ein, akzeptiere im Alltag immer weniger den Meinungsmainstream, den man im Grunde tagein, tagaus und bei genaueren Zuhören auch durch alle Gesellschaftsschichten um die Ohren geworfen bekommt. Ich darf das sagen, weil ich als Maler den unterschiedlichsten Menschen gegenübertrete. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Gesellschaft in den Köpfen nach rechts driftet, während sie nach außen aber weiterhin links argumentiert. Das ist ein Tatbestand, der nicht nur Deutschland, sondern gerade in reichen europäischen Ländern zu beobachten ist und ziemlich deutlich in den Parlamentswahlen seinen Ausdruck findet.
Früher hätte ich vielleicht knurrend, brummend geschwiegen und bestimmt wurde so mein Schweigen auf der anderen Seite gar als Zustimmung gewertet. Heute versuche ich durch meine Haltung zumindest einen Verunsicherungszustand, ein kleines Innehalten zu erzeugen, wenngleich es im schlimmsten Fall immer etwas vergebliches haben kann, einem Idioten etwas plausibel machen zu wollen.
S: Welche dieser gesellschaftlichen Prozesse sind für Dich hauptverantwortlich dafür, dass fast dreiviertel der erwachsenen Bevölkerung dieses ungeheuer wohlhabenden Landes sich berufen fühlen, nach immer härterer Bestrafung für ein anderes Land zu schreien, ohne Rücksicht auf die überall sichtbaren Anzeichen sozialer Verelendung, ausgelöst durch Maßnahmen, deren wirtschaftliche Vernunft sichtbar zweifelhaft ist?
…ohne Empathie werden wir nicht in der Lage sein, die Probleme lösen
K: Ich glaube, das hat vor allem damit zu tun, dass wir in zunehmend geschichtsloseren Zeiten leben. Hätten wir z.B. in Deutschland ein entsprechendes Bewusstsein, dass die Deutschen im vergangenen Jahrhundert nicht nur der größte Schuldner waren, sondern mit immerhin vier Schuldanschnitten in der Zeit von 1924 bis 1953 auch durch andere Staaten regelrecht auf die Beine gestellt worden sind, glaube ich, dass man die heutige Schuldenproblematik anders diskutieren würde. Denn schließlich mussten nicht nur große Nationen, wie die Vereinigten Staaten, sondern auch kleinere Nationen wie Griechenland zur Londoner Schuldenkonferenz von 1953 die deutsche Zeche zahlen. Hätte man hierzulande also ein anderes Bewusstsein für die Geschehnisse in Nachkriegsdeutschland entwickeln können, dass der spätere Wirtschaftsaufschwung des Landes weniger durch die viel zu oft beschworenen Volkstugenden wie des Fleißes und des Willens geschaffen wurde, sondern zudem durch konstruktive Unterstützungen oder Konjunkturprogramme des nahen und fernen Auslands begünstigt worden ist, hätten wir in Deutschland eine weniger gleichgültigere Betrachtung auf andere Wirtschaftskrisen entwickeln können.
Mit anderen Worten: Was wir bei der Beantwortung dieser und anderer Krisen dringend brauchen ist: Wissen und Empathie. Ohne Empathie werden wir nicht in der Lage sein, die Zuspitzung der Probleme lösen, ganz gleich, ob wir dabei an die reine Lehren eines Milton Friedman’s oder Maynard Keynes glauben. Man schaue sich nur die weltweit bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse an, selbst zweier einst so konfrontativ gegenüberstehender Systemmächte wie China und der USA. Die Globalisierung hat die Welt in einem Maße vernetzt und in Abhängigkeiten versetzt, dass es nun ein Zeichen politischer Klugheit sein muss, um auf supranationale Lösungen durch Empathie zu setzen. Wir können die heutigen und morgigen Krisen nicht durch simple Schuld & Sühne – Zuweisungen bewältigen. Für die Eurozone bedeutet dies, dass sie aus den Fehlern der jungen Vergangenheit lernt, dass unter der Dominanz eines einzigen Nationalstaates nicht abermals zu absurd hohen Sparmaßnahmen gegenüber schwächeren Eurostaaten kommen darf. Damit will ich nicht sagen, dass Griechenland keine Reformen braucht. Dieses Land braucht unbedingt Reformen, aber es braucht zudem ein weniger rasantes Tempo, das den Menschen erlaubt, diesen Weg überhaupt zu gehen. Denn jene Reform ist immer die beste, die von möglichst vielen Menschen getragen wird. Diktate wurden seit Menschengedenken als nicht besonders konstruktiv empfunden, weil sie die Souveränität des Menschen untergraben. In einer sich forcierenden globalen Verschuldungskrise aber, die für Gläubiger, wie für Schuldner eine hohe Hürde darstellt, müssen wir letztlich alle verstehen, dass wir uns im Sinne eines guten Krisenmanagements nicht nur ändern können, sondern auch ändern müssen, um die Probleme der Zukunft zu bewältigen.
S: Wie erklärst du dir aber, dass keinem EU-Krisenland derartig hohe Sparmaßnahmen verordnet worden? Gibt es etwa ein Motiv von Sühne, die als Möglichkeitsform von Abschreckung gedient haben könnte? Oder ist es gar nicht so? Vielleicht müssten wir die Beantwortung von möglichen Ursachen auch Personenbezogener führen?
K: Du hast völlig Recht. Weltgeschichte wurde nicht selten aufgrund persönlicher Animositäten geschrieben. Wir können darüber nur Mutmaßen. Darin steckt ein allzumenschlicher Aspekt, der in der Beurteilung zumeist zu kurz kommt.
S: Du spielst auf das problematische Verhältnis zwischen Schäuble und Varoufakis an?
K: Ja. Der eine ist progressiv, der andere ist konservativ. Der eine ist jung, attraktiv und fährt mit dem Motorrad ins Ministerium, der andere fährt mit dem Rollstuhl zur Arbeit. Hierin liegt schon genügend Zündstoff vor, über den wir aber nicht weiter spekulieren sollten, weil wir zu wenig darüber wissen.
S: Es ist aber auch kein Geheimnis, dass Wolfgang Schäuble ein Hauptakteur war und entscheidenden Einfluss auf die übrigen Finanzminister hatte.
K: Wolfgang Schäuble ist für Deutschland bestimmt ein recht ordentlicher Finanzminister, der zu Recht für seine Verdienste im eigenen Land gewürdigt wird. Auf der anderen Seite muss man fragen dürfen, ob seine politischen Fähigkeiten für ein gelingendes Europa ausreichen. Denn wenn es richtig ist, dass er das Vorgehen der EU- Schuldenproblematik bestimmt haben soll, so muss man ihm konstatieren, dass er auf der großen Bühne der internationalen Politik ein grottenschlechter Stratege war. Europa scheint nun mehr denn je gespalten und sein harter Kurs gegenüber Athen hat in Wirklichkeit die linksgeneigten Wähler in Spanien und Portugal viel mehr stärken als schwächen können. Dadurch wird der Kampf gegen Austerität einen neuen Schub bekommen und Europa weitere Risse erhalten. Es wäre viel klüger gewesen, Schäuble wäre verschuldeten Volkswirtschaften mit Anreizen, statt mit Bedrohungen begegnet. Man blicke nur auf das vergangene Jahrhundert und die Rolle der USA, die in kluger Weise ihrer Führungsrolle als damals junger Hegemon genutzt haben, in dem sie 1948 für Westeuropa ein 12,4 Milliarden Dollar schweres European Recovery Program aufgelegt und somit auch den Grundstein für Stabilität in Europa gelegt haben. Unbestritten bleibt auf der anderen Seite ein hoher Reformbedarf Griechenlands. Es leidet unter einer aufgeblähten Bürokratie, benötigt eine Justiz- und Rentenreform. Als Krisenhauptverursacher verfügt das Land über eine Militärausstattung, die zur höchsten innerhalb der Eurozone zählt. Militärisch ist das Land in den vergangenen Jahren zu einer Großmacht geworden und ich glaube, die Finanzkrise Griechenlands hätte vermieden werden können, wenn in Vorkrisenzeiten nicht ¼ aller Staatseinnahmen in den Militärsektor geflossen wären.
…warum soll ausgerechnet in Griechenland ein striktes Austeritätsprogramm funktionieren, was in keinem Land funktioniert hat?
Trotzdem scheint mir, als haben viele der Beteiligten kein wirkliches Interesse, diese Ausgaben signifikant nach unten zu fahren. Die griechischen Konservativen nicht, die Nato nicht, die von ihren Mitgliedsstaaten verlangt, mindestens 2 Prozent des Bruttoinlandproduktes für das Militär auszugeben sowie die Industrien Waffenexportierender Länder wie die USA, Frankreich und Deutschland nicht. Aber wie soll es gehen, einen Haushalt ohne Wirtschaftswachstum und ohne größere Anreize zu stabilisieren? Warum soll ausgerechnet in Griechenland ein striktes Austeritätsprogramm funktionieren, was in keinem Land dieses Planeten funktioniert hat? Austerität nebst unsinniger Steuererhöhung hat das Land leider in eine noch größere Krise mit einem noch höheren Schuldenstand gebracht. Seit den Sparauflagen ist die Wirtschaft um 25 Prozent geschrumpft, es herrscht Jugendarbeitslosigkeit von beinahe 60 Prozent. In vielen Familien dienen die Renten, die so ganz nebenbei zum elften Mal in nur fünf Jahren gekürzt wurden, um ganze Familien irgendwie über Wasser zu halten. Varoufakis hatte Recht, wenn er zu Amtszeiten die Wirtschaftsprognosen der Troika in Bezug zu Griechenland als absurd hoch bezeichnete und nach unten revidierte. Dennoch habe ich von der Troika oder den Institutionen, wie sich ja heute nennen, zu keiner Zeit ein Eingeständnis von Fehlern gehört. Einzig der IWF hat seine Einschätzung zur Tragfähigkeit griechischer Schulden korrigiert, indem er nun zu einem Schuldenschnitt rät. Man muss kein Prophet sein, um für die nahe Zukunft Griechenlands weiteres Ungemach zu sehen. Spätestens dann, wenn Griechenland Schwierigkeiten bei der Rückzahlung seiner bis 2018 anstehenden EU-Kredite haben sollte. Unter dem Zauberwort der mangelnden Reformbereitschaft werden dann die gleichen Akteure der griechischen Regierung unterstellen, alleinverantwortlich für das Scheitern zu sein. Dabei sind seit Ausbruch der Krise die Realeinkommen um 35% gesunken und das Haushaltsdefizit konnte von über 15% auf 3,5 reduziert werden. Auf einen Nenner gebracht, haben die Griechen seit 2008 mehr als 500 Milliarden gespart. Ich kenne keine Volkswirtschaft, die sich einer ähnlichen Radikalkur unterziehen lassen hat. Gleichzeitig hat diese Radikalkur der Gesundung des Patienten nicht geholfen, sondern geschadet, denn die Schulden stiegen seit 2008 um sage und schreibe 80% Bruttoinlandproduktes!
Zu gleicher Zeit – um den Blick auf ein anderes Land zu richten – hat man im Jahr 2009 in Deutschland aufgrund der sich eintrübenden Weltwirtschaft mit der Abwrackprämie in ein Konjunkturprogramm investiert, dass der deutschen Wirtschaft nachweislich half.
…bin angewidert, einer Spezies anzugehören, die sich Europäer nennt
S: Du hast gesagt, Du seiest immer ein großer Fan von Europa gewesen, jetzt aber würdest Du zunehmend zweifeln?
K: Ja, ich bin gegenwärtig angewidert, einer Spezies anzugehören, die sich Europäer nennt. Dieser Kontinent ist im Moment nicht viel mehr als eine Kurklinik für Konsumenten. Die vielbeschworenen Werte Europas, die eine mindestens zweitausendjährige Vorgeschichte haben, scheinen nur in ein paar Büchern zu stehen – gelebt werden sie in den Nationalstaaten jedenfalls nicht. Problembewältigungen werden seit Jahren in die Zukunft verlagert – ganz gleich, ob es sich dabei um die Flüchtlingsproblematik oder die Eurokrise handelt. Das Hoffnungsvolle und zugleich Erschütternde ist doch, dass wir gerne europäisch, dass wir gerne international, dass wir gerne global sind – solange wir eben neue Märkte errichten können. Der Kern jedoch, an dem Europa heute leidet ist, dass wir ganz schnell national und ängstlich werden, sobald die Härten der Globalisierung an unsere Komfortzone klopfen.
S: Was, glaubst Du, wird vor allem in Griechenland übrig bleiben vom kurzen Frühling der Hoffnung, dass mit Syriza ein neues Politikmodell gegen die neoliberalen Währungs- und Austeritätshüter durchsetzbar ist. Siehst Du Phänomene wie die überraschende Karriere von Jeremy Corbyn in Großbritannien, die Wahlerfolge von Podemos in Spanien, ja selbst Bernie Sanders als Kandidat der US-Demokraten als vergleichbar mit dem Erfolg von Syriza, oder bleibt das ein griechischer "Sonderweg"?
K: In allen von dir aufgeführten Ländern gibt es im Grunde ein nicht zu leugnendes Aufbegehren gegen das neoliberale Modell. Zu verwundern ist es nicht, denn die Probleme scheinen sich in Bezug auf das neoliberale Modell nur zu forcieren. Gleichzeitig nimmt das Unbehagen an den alten politischen Eliten zu – nicht nur in den Krisenstaaten. Daher glaube ich, dass wir von Deutschland bis hin zu den Vereinigten Staaten erst am Anfang von politischen Neujustierungen stehen. Auf der anderen Seite sollte man in puncto europäischer Krisenländern nicht um den heißen Brei herumreden und nicht zu viel erwarten. Solange die Situation so ist, wie sie ist, wird Politik in europäischen Krisenländern – vor allem in Griechenland – weiterhin durch den Liquiditätshebel der europäischen Zentralbank sowie den übrigen Gläubigern und weniger über die jeweiligen Parlamente geregelt werden. Ob diese Rolle der EZB und der Demokratie zusteht und weiterhin zustehen sollte, steht auf einem anderen Blatt. Außer Frage steht auch, dass durch diesen Souveränitätsverlust in Europa ein gefährliches Demokratievakuum entstanden ist, dass bei den Menschen zunehmend die Sinnfälligkeit von Volkswahlen hinterfragen lassen wird. Fakt ist aber auch, dass die Griechen ihre Linksregierung wiedergewählt haben und mit dieser Wiederwahl gleichwohl das Ticket für den Verbleib in der gemeinsamen Eurowährung gezogen haben. Dennoch bleibe ich skeptisch, ob ein Austritt Griechenlands aus der Währungsunion nicht die bessere Alternative gewesen wäre. Mit dem Abgang von Varoufakis haben leider die verbliebenen Beteiligten eine Abkehr vom Euro geschickt umschiffen können. Dennoch bleibt Syriza eine Modernisierungspartei, die für einen modernen, korruptionsfreien Staat, sozialen Ausgleich und immerhin für die Wahrung von Minderheitsrechten steht. Ich sehe in der griechischen Polithierarchie – auch vor dem Hintergrund einer langen klientelistischen Tradition Griechenlands, keine wirkliche Alternative. Syrizas Manko bleibt allerdings ihr minimaler Handlungsspielraum. Auch wenn es im Moment wenig Anlass zum Optimismus gibt, bleibe ich dennoch zuversichtlich, dass dem Land auf lange Sicht die Wende gelingen wird – auch wenn die meisten Indikatoren in eine andere Richtung zeigen. Der Traum von einem leistungsloseren Leben ist ausgeträumt. Die Griechen werden gerade wach und in ihrer Wachwerdung soll allmählich ein Bewusstsein mitschwingen, dass sie einst unserem Kontinent, dem sie Europa nannten, Kultur geschenkt haben. Darüber hinaus haben die Griechen doch nicht nur die Tragödie, sondern auch die Komödie erfunden. Und: Griechenland hat uns auch gezeigt, wie man durch schwere Krisen gehen kann, ohne dass die Demokratie geschwächt wird. Das ist schon ein Pfund. Wir wollen uns nicht vorstellen, was in Deutschland passiert wäre, wenn den Menschen vergleichbare Einschnitte aufgebürdet wären. Insofern bleibe ich für Griechenland gelassen.
Soweit ich Podemos in Spanien beurteilen kann, agiert sie weniger programmatisch als die griechische Schwesterpartei. Beiden gemeinsam ist ihr Affront gegen das politische Establishment. Im Unterschied zu Syriza lehnt Podemos allerdings eine Zusammenarbeit mit den politischen Eliten des Landes strickt ab, setzt aber gleichsam auf wirtschaftspolitische Kontinuität. Aus meiner Sicht drückt sich hier ein politischer Unwille aus, der die Gesellschaft Spaniens in eine unfruchtbare Links/Rechts Spaltung führen kann, denn vordergründiger Populismus wird nicht reichen, um die Geschicke Spaniens in mildere Fahrwasser zu bringen. Gleichwohl müssen von New York bis Madrid heute und in Zukunft lösungsorientierende Ansätze gefunden werden, als im fortwährenden Vertagen von Problemen, um die leider chronisch werdenden Krisen, wie Anstieg der Weltbevölkerung, Anstieg der Gesamtverschuldung und der zunehmenden Ungleichheit von Vermögen und Einkommen endlich anzugehen. Alles in allem bleibe ich aber doch skeptisch, nicht weil ich Geschichtspessimist bin, sondern Geschichtsrealist bin. Schließlich ist der Mensch nicht nur ein Wesen, das nach Erkenntnis und Erfahrung strebt, es ist auch ein Wesen, das Erfahrung und Erkenntnis in einem erheblichen Maße zu vermeiden sucht. Was ihn aber letztlich immer getrieben hat, war pure Not.
S: Bei den "vielbeschworenen Werten" Europas, die auch Du mit gewissem Pathos bemühst, müssen wir m.E. präzisieren, denn immerhin ist im Namen einiger dieser Werte ein bluttriefender Kontinent in der Geschichte entstanden, ob gegen sich selbst oder nach außen gerichtet. Müssen wir nicht eher über die Werte selbst sprechen, sie deutlich benennen, die wir verteidigen wollen, nicht nur als selbstgefällige Ricola-Europäer (Wer hat’s erfunden?), sondern in offener Auseinandersetzung auf Augenhöhe mit anderen Kulturen – unter den Stichworten z. B. Menschenrechte/-würde, Solidarität, Aufklärung, Universalismus?
K: Klar, denn jede noch so gute Staatsverfassung existiert nicht, weil sie geschrieben wurde, sondern weil sie auf Werten basiert, die zuvor von anderen Menschen und nicht selten blutig erkämpft wurden. Zwar ist der moderne Staat auf den Fundamenten des Christentums entstanden, es darf allerdings angezweifelt werden, ob ein freiheitlicher Staat gänzlich auf Religionswerte verzichten kann. Und wenn wir über Werte sprechen, dürfen wir die Zivilreligionen nicht vergessen, die bereits vor dem Christentum existierten. Denn moralisch konnten die Menschen bereits damals zwischen gut und nicht gut unterscheiden. Insofern bilden die Werte Europas, die Summe aller religiösen und nichtreligiösen Errungenschaften zu einem humaneren Leben. Das oft angeführte europäische Wertebarometer mit seinen einzelnen Pfeilern aus Demokratie, Solidarität, Rechtsstaatlichkeit usw. bleibt letztlich phrasenhaft, wenn die einzelnen Pfeiler nicht mit weiteren Erzählungen, weiteren Geschichten verknüpft werden. Solange dieser Zusammenhang nicht hergestellt wird, können wir unsere Werte nicht leben, weil wir sozusagen den Boden, aus dem diese Werte hervorgegangen sind, nicht mehr sehen. Insofern laufen wir heute Gefahr, dass das Amalgam, aus dem die Gesellschaft ihren Konsens zu bilden versucht, brüchig wird.
Auf einen Nenner gebracht, steckt in dem Satz von der Unantastbarkeit menschlicher Würde sozusagen die kulturelle Leistung unseres gesamten Kontinents, steckt das Träumen Homers, Platons politeia, Artistoteles’ zoon politcon , darin die soziale und politische Beschaffenheit des Menschen beschrieben wird, im Grunde der ganze Kosmos antiker Weisheitslehre bis hin zu Seneca, steckt Augustinus und sein Gottesstaat, steckt Diderot und seine enzyclopédie undsofort.
Trotz allem hat – wie du richtig sagst – das bluttriefende letzte Jahrhundert gezeigt, wie schnell die Werte Europas verschüttet werden können
S: Als Lösungansatz für Nah- und Fernkonflikte bzw. ihrer Vermeidung appellierst Du an die Empathie, als individuelle menschliche Fähigkeit, die Befindlichkeiten und Interessen des Anderen in sein eigenes, kooperatives Handeln mitfühlend einzubeziehen.
Das ist, vielleicht mit Ausnahme diplomatischer Goodwill-Inszenierungen, sicher keine anerkannte Schlüsselkompetenz politischer Machtlogik (oder wenn, nur als pervertierte Sozialtechnik in Form politischer Machtspiele). Wir sehen es exemplarisch an der fortschreitenden Demontage einer (allem Anschein nach anfangs) mit Empathie agierenden Angela Merkel.
Auch die Marktlogik als Kampfzone größtmöglicher Vorteilssicherung ist geradezu das Gegenmodell kooperativen, emphatischen Handelns, bestimmt aber mehr als jede Politik das globale Geschehen.
Eine Folgerung könnte sein, repräsentativer Politik durch rationaleres, sprich emphatisches und couragiertes Bürgerhandeln ein Gegengewicht zu geben?
K: Ich sage lediglich, dass es aufgrund der weltweiten Abhängigkeitsverhältnisse für alle Beteiligten besser ist, von vornherein auf Empathie, auf Kooperation zu setzen, auch weil im Miteinander weniger Konfliktbereitschaft besteht und uns die Zukunft ohnehin zu Kooperationen zwingen wird. Mit anderen Worten: Wir sitzen alle im gleichen Boot. Rationalität und Empathie sehe ich zwar nicht unbedingt als Begriffspaar, aber wenn du so willst, zwingt uns früher oder später ohnehin die Realität zur Logik von Kooperationen.
S: Schon jetzt zeichnet sich ab, dass diese Republik eine Zäsur erlebt, emotional polarisiert, begrifflich verwirrt, im Handeln erbittert. In welcher Dramatik das verläuft, ist noch nicht ausgemacht. Hättest Du nach der brutalen Entsolidarisierung im Fall Griechenlands seitens der Politik in trauter Eintracht mit 75% von Volkes Zustimmung als Gegenpol im letzten Herbst die Bereitschaft großer Teile der bürgerlichen Schichten, Flüchtlingen aus den Kriegs- und Verelendungsgebieten des Nahen Ostens und Afrikas Aufnahme zu gewähren, für möglich gehalten? Und wie erklärst Du Dir das?
Im Grunde sind wir alle Neger
K: Um ehrlich zu sein, hat mich Merkels Haltung am meisten überrascht. Ich habe mich oft gefragt: Waren es rationale Motive? Waren es emotionale Motive? War es eine Mischung aus beiden? Ging das im Ausland entstandene Bild von der kühlen deutschen Protestantin ihr gehörig auf den Keks? Wie dem auch sei: Aus einer Verwunderung ist eine Bewunderung geworden. Hinter ihrem Entschluss steckt ein politischer Wille, obwohl ihre Begriffe von Einwanderung und Asyl immer noch nicht hinreichend unterschieden werden. Und ja, in ihrem Handeln steckt auch ein Gestus der Empathie. Ihr Mut ist erstaunlich, wenngleich jeder gewollten Einwanderung natürlich auch die Möglichkeit zur Integration durch Arbeit Folgen muss, weil andernfalls die Flüchtlinge in einem ganz anderem Maße stigmatisiert zu werden drohen, als wir uns das heute vorstellen können. Ja, um auf deine Frage zurückzukommen, nicht unwesentliche Teile der deutschen Gesellschaft stehen für eine Willkommenskultur, andere Teile polemisieren und mobilisieren gegen Flüchtlinge. Bei allen lobenswerten Bemühungen und Hilfeleistungen der deutschen Zivilgesellschaft, wollen wir nicht verschweigen, das im Jahr 2015 ca.1000 Übergriffe mit rassistischen Tatmotiven zu registrieren waren. Auch das gehört leider zur Realität. Ich bin daher nicht der Meinung, dass Bundespräsident Gauck Recht hat, wenn er das Land in Hell- und Dunkeldeutschland unterteilt, denn am rechten Rand werden immer deutlicher Parolen ausgesprochen, die vom Kern der Gesellschaft offenbar akzeptiert werden. Deutschland ist weder hell, noch dunkel. Deutschland ist Helldunkel. Und es ist seit den 60er Jahren Einwanderungsland. Jeder sechste Bewohner Deutschlands besitzt einen Migrationshintergrund. Problemfrei waren Migrationsbewegungen nie, im übrigen auch nicht bei jenen Reichsdeutschen, die nach dem Ende in ihre Heimat kamen. Problemfrei waren auch die Anwerbemaßnahmen der Gastarbeiter durch die junge Bundesrepublik Mitte der Fünfziger bis Anfang der Siebziger nicht. Trotzdem lässt sich in der Geschichte der Bundesrepublik keine einzige Migrationsbewegung finden, die als gescheitert zu bezeichnen wäre. Wäre es aber heute nicht an der Zeit ein neues Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es gerade infolge jahrtausender Völkerwanderungen immer schon ein große Idiotie gewesen ist, vom reinen Deutschen, vom Biodeutschen, vom Biogriechen oder vom Biospanier, zu reden? Meinen wir ernsthaft, in uns fließe infolge gigantischer, jahrtausendalter Völkerwanderungen nicht auch das Blut anderer Ethnien. Wer weiß eigentlich, dass Charlie Chaplin, Elvis Presley oder Ron Wood von den Rolling Stones einen Roma- Hintergrund hatten, wer weiß, dass Steve Jobs einem syrischen Vater entsprungen ist? Mit anderen Worten: Die Reinheit des Blutes ist immer schon ein großer Nonsens gewesen. Betrachtet man die Medaille von der anderen Seite und folgt diesem Gedankenexperiment bis tief hinein in die Ursprünge unserer menschlichen Zivilisation, so könnte man – wenn auch mit einiger Überspitzung sagen: Im Grunde sind wir alle Neger.
S: Das wird mir jetzt zum Schluss zu appellativ. Nochmal die Frage: Wie würdest Du politisch das auf den ersten Blick entgegengesetzte Reaktionsmuster eines großen Teils der Bevölkerung analysieren: hier Griechenland als Sammlung unwürdiger Kretins, dort Kriegsflüchtlinge als Objekt der Solidarität – auch wenn sich das derzeit massiv zurückentwickelt?
K: Verwundert dich das Reaktionsmuster tatsächlich so sehr? Wenn den Menschen fortwährend von sogenannten Hilfspaketen erzählt wird mit denen der Verschwendergrieche in der Eurozone gehalten werden soll, wenn ihnen zudem suggeriert wird, dass der Grieche ja angeblich ein 13. Gehalt beziehen soll, früher als in Deutschland in Rente gehen soll und obendrein auch noch mehr Pensionszahlungen erhält. Vielleicht sind Lügen widerlich. Widerlicher sind aber immer jene Lügen, die geglaubt werden.
S: Wirkt Empathie, ich muss nochmal auf diesen Begriff zurückkommen, demnach nur als handlungsleitendes Prinzip bei direkter Anschauung, versagt aber angesichts von mittelbaren, unverstandenen Konflikten und überlässt Ignoranz bzw. Antipathie den Raum?
Verblassen moralische Handlungspräferenzen je mehr Verpflichtung daraus entspringen?
K: Wir wollen nicht nach Sternen greifen. Empathie wird niemals zu einem gesamtgesellschaftlichen Modell taugen. Sie sollte nur ein Modell zur Handlungspraxis von Politik sein. Wie wichtig so ein Modell sein könnte, zeigt sich gerade im Scheitern von Problemlösungen: Hat man in Bezug zu den ersten Flüchtlingswellen im Zentrum Europas nicht über Jahre die Hilferufe aus Italien und Griechenland ignoriert? Später hat die gleiche europäische Allianz der Ignoranz ein Dublin-Abkommen ersonnen und gleichsam pervertiert, dass die ohnehin durch die Eurokrise in Mitleidenschaft geratenen Erstankunftsmittelmeerstaaten noch mehr zwang, alleinverantwortlich zu sein. Mit einer Politik des Auf- und Wegschiebens erhöhen sich aber weitere Gefährdungspotenziale. Zur gleichen Zeit haben die Handlungsmächtigen den mittlerweile fünfjährigen und sehr komplizierten syrischen Krieg billigend gewähren lassen? Nun, wo die syrischen Bürgerkriegsflüchtlinge an unsere Tür klopfen, fragen wir uns erstaunt nach den Ursprüngen von Krieg und Vertreibung. Ignoranz und Gleichgültigkeit funktionieren als Paar immer nur solange sie von den tatsächlichen Problemen der Menschen isoliert bleiben. Auf der anderen Seite gibt es in einer konfliktreichen arabischen Welt auch hoffnungsvolle Blüten, die wir nicht weiter vertrocknen lassen sollten. Man schaue weiterhin staunend auf das kleine Tunesien, in dem die mittlerweile vierte Verfassung verabschiedet wurde, in dem u.a. Wahlrecht und die Gleichheit von Mann und Frau verankert ist. Statt die Tunesier in bilaterale Beziehungen zu verstricken, die dem Land Wachstum und Prosperität ermöglichen könnte und somit gleichsam einen ganzen Kontinent ermuntern könnte auf dieses Land zu schauen, tun wir nichts dergleichen. Wir lassen dieses Volk in seiner für diesen Kontinent singulären Fortschrittlichkeit alleine, ermöglichen erst dadurch rückwärtsgewandten Strömungen Fuß zu fassen. Eine Politik der Ignoranz werden wir uns nicht länger erlauben dürfen. Schließlich kommen viele Konflikte und Errungenschaften aber von weit her, bahnen sich an – noch bevor sie zum Ausbruch kommen. Wir haben Philosophie, wir haben Soziologie, wir haben Literatur und dergleichen mehr und ihre herausragendsten Vertreter beschreiben dies in ihren Texten lange vor den Ereignissen. Mit anderen Worten: Es ist nie verkehrt, wenn Politik in ihrem Vermögen empathisch zu sein, in einen viel größeren interkommunikativen Austausch gelangen könnte, als sie dies in der Vergangenheit gezeigt hat.
S: Wird die couragierte Zivilgesellschaft nicht auch das von Dir beschriebene diskursive Lösungsduo: Wissen und Empathie tendenziell zugunsten politischer Machtlogik aufgeben müssen, um gegenüber dem Ansturm der immer brutaler werdenden rechten "Werteverteidigung" auch nur den Hauch einer Chance zu haben?
K: Eines dürfte klar sein: Wir werden viel verlieren, wenn es uns nicht gelingt mit Mut und Verve dem Kleingeist aller Gesellschaftsschichten die Schranken zu weisen. Letztlich ist die Weimarer Republik nicht an sich, sondern an dem Umstand gescheitert, dass nicht genügend Demokraten da waren, die für sie einstanden.
S: Du hast im letzten Jahr mit dem bezeichnenden Titel „2015“ ein Bild gemalt, das apokalyptische Züge aufweist. Trotzdem gibt es in diesem Bild das Motiv der Hoffnung. Darf ich dich direkt fragen, wie du die weitere Entwicklung siehst?
Es geht nicht um eine gerechte Gesellschaft. An so etwas glaube ich nicht
K: Ich habe keinen Weltplan. Mein Vater hat mich aber zeitlebens mit der schlicht scheinenden Lebensmaxime von Leben & Leben lassen, erzogen. Ich glaube, er erwähnte diesen Begriff immer dann, wenn die Ereignisse im Kleinen und Großen zu große Ungleichgewichte offenbarten. Um nicht falsch verstanden zu werden: Es geht mir nicht um eine gerechte Gesellschaft. An so etwas glaube ich nicht, zumal eine gerechte Gesellschaft auch keine Kunst und keine Philosophie braucht. Leben & Leben lassen meint mehr und in einem ganz und gar vernünftigen und nachhaltigerem Sinne, dass etwa dem Hühnerzüchter in Ghana erlauben könnte, von seiner Arbeit zu leben, wenn wir nicht wollen, dass ihm weiter seine Lebensgrundlagen entzogen werden und er am Ende bei uns sein Glück suchen muss. Denn im Grunde braucht er keine einheimische
Agrarsubvention, um mit den subventionierten Hähnchen aus Europa und Nordamerika konkurrieren zu können, er braucht lediglich das simple Verständnis der ebenfalls produzierenden Big Player, dass der westafrikanische Bauer von seiner Arbeit leben will und soll.
Oder denken wir noch einen Moment an die mittlerweile globale Verschuldungskrise und die oft namenlose, kleine Schar superreicher Gläubiger, die jene in Kredit geratenen Staaten zwingen, ihren alten Zinnsforderungen zu entsprechen. Auch hier wird man zu Kompromissen bereit sein müssen, soll die Karre nicht vor die Wand gefahren werden. Denn oft ist ein bisschen weniger auf lange Sicht eben doch mehr.
S: Ist für dich die Tatsache, dass wir als deutsche Europäer in den vergangenen Jahren in einem politischen Pampers-Zustand gelebt haben, und nun klar wird, dass wir doch inmitten globalisierter, z.T. durch uns billigend in Kauf genommene Konflikte und blutiger Auseinandersetzungen leben, eher verunsichernd und lähmend oder siehst Du in diesem Einbruch brutaler "Welt da draußen" etwas Forderndes und, ja auch Bereicherndes?
K: Wir müssen uns ändern und wir sollten keine Angst davor haben. Wir beklagen zu Recht die mangelnde Steuermoral in nicht wenigen europäischen Ländern, während wir scheinheilig die Augen davor verschließen, dass sich zu den alten, unverhohlen neue europäische Steueroasen hinzugesellen. Es war in diesem Zusammenhang interessant zu hören, wie kürzlich geschehen in einer deutschen Talkshow, dem Ex-Finanzininister Varoufakis vorgeworfen wurde, er hätte während seiner Amtszeit nichts unternommen, um reiche Griechen zu besteuern. Daraufhin antwortete Varoufakis einem deutschen Europaabgeordneten, dass er Brüssel bereits in der ersten Woche seiner Regierungszeit einen Vorschlag zur Besteuerung reicher Griechen vorlegte, Brüssel aber diesen Vorschlag ablehnte. Mit anderen Worten: Es ist viel Heuchelei im Spiel. Wenn das Edelrittertumgehabe aus Brüssel nicht endlich aufhört, kann aus einer momentan modischen Demokratie- und Staatsverdrossenheit nur eine Chronische werden. Gleichsam sollten wir, um auf die Maxime von Leben & Leben lassen zurück zu kommen, nicht die Augen davor verschließen, dass das gigantische Nachkriegswirtschaftswachstum des vergangenen Jahrhunderts eben auch Opfer verursacht hat. Gewiss hat es vielen Wohlstand beschert, einen wenigen Reichtum, manch anderem Erdbewohner hat es aber tatsächlich weniger gebracht und unserer Natur definitiv geschadet. Vielleicht müssten wir in Zukunft klarer vor Augen haben, dass unser Handeln durchaus ungewünschte Konsequenzen erzeugen können, wenn etwa ein Handelsüberschuss in einem Land an anderer Stelle eben ein Handelsdefizit erzeugt und wir sollten unter den Kriterien der Ausgewogenheit dafür sorgen, dass dieser Spread nicht zu groß wird – immer vorausgesetzt, wir wollen nicht in noch größere Krisen geraten.
Ich will ein kurzes Bespiel geben: Vor einem knappen Jahr bin ich mit dem Auto durch verschiedene Länder Europas gefahren, um letztlich ins griechische Piliongebirge zu gelangen. Auf dem Weg dorthin machte ich Station in Budapest und Belgrad. Es war überall das gleiche Bild: Die Straßen zu den Städten waren flankiert durch große ausländische Werbetafeln, zumeist Banner deutscher Großunternehmen. In den Städten habe ich dann jeweils einen deutschen Lebensmitteldiscounter und eine deutsche Drogeriemarktkette besucht. Im Discounter fand ich so gut wie keine einheimische Produkte. Schlimmer jedoch war der Besuch in der Drogerie, in der man tatsächlich nur deutsche Produkte kaufen konnte und kein einziges Regionalprodukt fand. Da habe ich mich gefragt, wie soll das Europa von morgen funktionieren? Ich glaube nicht, dass ein Europa, das sich zunehmend als Ausweitung der Konsumzone versteht, auf Dauer überlebensfähig sein wird. In Bezug dazu und infolge meiner Beschäftigung mit der Griechenlandkrise musste ich leider auch erfahren, dass Staaten wie Spanien oder Griechenland nach ihrem EU-Beitritt Anfang der 80iger Jahren, eine „industrielle Umstrukturierung“ auferlegt wurde. Das waren EU-Auflagen, die dazu führen sollten, jene Staaten unter dem Label der „Modernisierung“ in Dienstleistungsgesellschaften zu überführen. Die ohnehin schon rudimentären Industrien fielen aber gänzlich weg und wurden nicht ersetzt. Auf der anderen Seite darf man auch nicht verschweigen, dass die europäischen Strukturfonds in puncto Gesundheit, Infrastruktur und Bildung ja auch viel Gutes bewirkt haben.
S: Darf ich zum Abschluss nochmal den Bogen zu meiner ersten Frage etwas direkter spannen, was Malerei oder du als Maler in diesem Klärungsprozess bewirken kannst?
K: Ich gehe nicht davon aus, dass Malerei den Menschen zu einem besseren Wesen verhelfen kann. Ich glaube aber sehr wohl, dass durch Malereien, Literaturen sowie durch Kultur im Allgemeinen das Bestialische im Menschen gekittet werden kann. Daher wollen wir uns lieber nicht vorstellen, wie die Welt ohne Kunst aussähe…
©2016 Aris Kalaizis | Stephan Schwardmann