Manchester. Eine dritte Erzählung nach einem Kalaizis-Gemälde
Der in der Schweiz geborene und in New York lebende Autor Christoph Keller schreibt mit einer dritten Story zu einem Bild des in Leipzig lebenden Malers, Aris Kalaizis "Manchester" (2009). Eine surreale Geschichte zwischen Himmel und Hölle
Sie hiessen Robert und Paul. Es war Paul, der die Melone zuerst aufsetzte. Als Robert seine auf hatte, waren sie verschwunden.
Sie waren Brüder. Robert, der ältere, war ein Restaurantbesitzer, Paul programmierte Software. In letzter Zeit hatte es alarmierend viele Auseinandersetzungen zwischen ihnen gegeben, darunter auch gewalttätige.
“Weshalb hast du mich geschlagen?” fragte Paul. So plötzlich von dunklen Bäumen umgeben, sehnte er sich nach Elisas schlankem Körper. Zudem war er hungrig.
Da sich Robert nicht umdrehen konnte, blinzelte er über seine Schulter. Sein Bruder trug einen altmodischen braunen Anzug und einen vollgepackten Rucksack. Sie befanden sich in einer kleinen Lichtung, die ihm vertraut vorkam.
Paul spürte, dass Roberts Schweigen das Schweigen des Waldes war, angefüllt mit den Geräuschen von Kreaturen, die er nicht sehen konnte: es zwitscherte und zirpte, zischte und röhrte. Er muss einen Grund haben, weshalb er mich geschlagen hat, dachte er. Robert tat nie etwas ohne Grund. Selbst wenn er Dampf abliess, tat er es nie ohne vorher alle möglichen Implikationen durchdacht zu haben. Robert hielt einen offenen Regenschirm. Aber es regnete doch nicht? Die Luft fühlte sich trocken an, roch einladend nach warmem Harz, nach alterndem Laub. Da waren nur Blätter‑, keine Nadelbäume.
Robert spürte etwas unter seinem Fuss. Etwas Weiches, das härter wurde, als er, alle seine Kräfte aufbietend, seinen Fuss dagegen drückte. Es war ein weisser Zylinder. Er hatte ihn wohl zerquetscht, als er hier eintraf. Es fühlte sich nicht richtig an. Genauso hatte es sich angefühlt, als er einmal als junger Koch in eine Suppe gespuckt hatte, die der Kellner darauf servierte. Es war ein schrecklicher Augenblick gewesen. Er dachte of daran.Hätte er jenen Gast schon immer gehasst, wäre es etwas anderes gewesen. Hätte er einfach dessen Visage nicht ausstehen können, wäre es einfacher zu verstehen gewesen. Doch hatte er nicht einmal gewusst, wer die Suppe bekommen würde. Seine Gäste waren seine Familie. War es möglich, dass er seinen Bruder einfach so geschlagen, und es, eben weil er dafür keinen Grund hatte, völlig vergessen hatte? Aber das mit der Suppe hatte er nicht vergessen. Und er liebte seinen Bruder doch!
Robert versuchte, seinen Fuss zu heben, doch vermochte er es nicht. Er schaute seinen Schirm und sagte, “Es hat weisse Zylinder geregnet, Paul.”
Paul spürte das Gewicht des Rucksacks. Dennoch hörte er nicht auf, mit dem Griff seines Schirms herumzustochern. Oder war es ein Stock? Nur weil sein Bruder einen Schirm hatte, bedeutete das ja nicht, dass er auch einen hielt. Er war noch nicht mit den Gesetzen seiner neuen Umgebung vertraut. Er suchte etwas. Er blickte auf seine Hand, die den glatt-furnierten Griff umfasste, doch wenn er weiterblickte, so war da nichts. Keine Büsche, keine Bäume, kein Boden, noch nicht einmal Dunkelheit. Die Welt hörte einfach auf. Schaute er aber er seitwärts, so konnte er meilenweit sehen, tiefer und tiefer in den Wald, indem er mit den Augen den weissen Zylindern folgte.
“Du kannst das nicht wissen,” sagte Paul.
“Es ist nicht nass, der Himmel ist wolkenlos, und ich halte einen Schirm in der Hand. Was anderes könnte also sein? Alles geschieht aus einem Grund. Nimm das in dein Herz auf, Paul.” Der Gedanke an Gott verärgerte Robert über alle Massen.
“Die Hüte waren schon vor uns da. Bevor wir kamen”, sagte Paul. Er dachte an seine Töchter, die fünf und elf waren und zwei verschiedene Mütter hatten. Beide weigerten sich, ihn zu sehen. Er dachte an Myrna, Elisas Tochter, die er so sehr verwöhnte. Er hatte Angst, sie zu verlieren, alle Frauen in seinem Leben. Er erinnerte sich an den blauen Sweater, den Myrna trug, als er sie kürzlich zum Spielplatz gebracht hatte. Wie ein Ast ein Loch in die Baumwolle gerissen hatte. Doch er vermochte sich an kein einziges Kleid seiner eigenen Töchter erinnern.
“Wir sind nicht gekommen, Bruder”, sagte Robert. “Wir sind … jetzt einfach da. Wie Gäste, die ihre Plätze schon eingenommen haben, wobei das, was sie bestellt haben, wie ein Wunder, bereits heiss dampfend auf dem Tisch steht.”
“Ohne zu kommen?”
“Wir sind erschienen, Paul.”
“Wie eine Vision?” Paul lachte, doch war es ein unsicheres Lachen. Es gelang ihm nicht, das zerrissene Kleid aus seinen Gedanken zu verbannen. Das Staccato eines Spechtes, der gegen einen Baum schlägt, war zu vernehmen. Es hörte sich an wie eine Rede. “Doch wem? Da ist keiner. Ist es denn eine Vision, wenn kein Visionär zugegen ist?”
“Wie kannst du wissen, dass uns niemand beobachtet?”
“Was wäre in diesem Fall unsere Botschaft?”
“Vielleicht sind wir die Botschaft, sollen aber nicht wissen, was die Botschaft bedeutet. Tatsache ist, dass wir hier sind,”
“Tatsache ist, dass wir nicht hierher gehören, Robert.”
“Das kannst du nicht wissen. Was, wenn wir hierher gehören? Was, wenn wir die ganze Zeit am falschen Ort waren, doch jetzt, ganz plötzlich, hat sich dieser Ort hier uns offenbart?”
“Wie eine neue Lokalität für eins deiner Restaurants?”
Robert schüttelte traurig den Kopf. Tatsache war doch, dass sie beide nicht verstanden, was mit ihnen geschah. Tatsache war doch, dass, wann immer Robert etwas spürte, etwas Besonderes, etwas, das nicht benannt werden sollte, war Paul stets zur Stelle, diesen Moment lächerlich zu machen, ihn von ihm wegzunehmen. Das nun war ein Grund, ihm eine zu hauen.
“Na, was würdest du damit machen?” sagte er. “Ein Ort … der sich uns auf einmal eröffnet?”
“Was ich daraus machen würde?” Paul hielt überrascht inne, sagte dann, “Vielleicht macht uns das zu Göttern? Götter ohne Gläubige, die auf sich selbst angewiesen sind.” Er zögerte. “Oder sind die Zylinder die Gläubigen? Beten sie zu uns? Oder sind sie die Götter, und wir diejenigen, die sie anbeten sollten?”
Robert spürte das starke Bedürfnis nach einem klaren Glauben. Seine Restaurants hatte er aus Arbeiterkneipen in Feinschmecker-Tempel verwandelt. Er bot dort kostspielige organische Gourmet-Mahlzeiten an, und wer immer das hinterfragte, der konnte ja anderswo einkehren.
“Es ist … mysteriös”, sagte er. “Vielleicht sollten wir es darauf beruhen lassen.”
Da bemerkte Paul die glänzende, polierte Oberfläche am Boden hinter ihm. Eine Miniatur-Eisbahn, auf der zwei weisse Zylinder selbstvergessen Schlittschuh liefen. So viel zumindest konnte Paul aus den Augenwinkeln sehen. Er spürte, dass sich darunter etwas verbarg. Etwas so Fürchterliches, dass er den Verstand verlöre, wüsste er, was es ist, etwas so Wesentliches, dass es ihn allmählich auffrässe, wüsste er es nicht.
“Ich habe dich geschlagen”, sagte Robert, “weil du mich mit meiner Frau betrogen hast.”
Mehr denn je wünschte sich Paul, er könnte sich bewegen – und seine Hand auf Roberts Arm legen. Er erinnerte sich jetzt genau, weshalb Robert ihn geschlagen hatte. Er hatte sich für Johan, einen von Roberts Kellnern eingesetzt, den Robert so herzlos gefeuert hatte. Robert musste das als Verrat empfunden haben.
“Robert, du bist nicht verheiratet,” sagte Paul.
“Vielleicht bin ich es hier,” sagte Robert nachdenklich. “Wir wissen nicht, wo wir sind. Wir wissen nicht, wie wir hierher gelangt sind. Wir sind einfach … hier.”
Paul nickte. “Es hat alles im Manchester angefangen.”
“Manchester?”
“Na, dein Restaurant. Siehst du es denn nicht … was auf dem Fass geschrieben steht, der Pfeil darunter! Los, lass uns gehen, alles in Ordnung bringen, Robert, bevor es zu spät ist. Johan … braucht seinen Job.”
Robert zuckte zusammen, füllte den Wald mit wütender Stille. Da war das fedrige Rascheln der Blätter, das fordernde Heulen des Windes.
“Weshalb nicht?” beharrte Paul. “Weshalb bist du so hart mit ihm? Ja, schon, er hat dich verscheissert, als er einfach nicht erschienen ist, doch als er dann kam, tat es ihm aufrichtig leid und er wollte alles wieder in Ordnung bringen. Er ist ausgeflippt. Seine Freundin ist schwanger. Gib ihm noch eine Chance. Sei grossherzig, Bruder.”
“Warum können wir hier sprechen,” sagte Robert nach einer Weile, “während wir uns nicht bewegen können?”
“Vielleicht um unser Ängste ausprechen zu können?”
“Die Zylinder”, sagte Robert. “Jetzt erinnere ich mich. Es hat nichts mit Johan zu tun. Wir nahmen unser Mittagessen ein, im Manchester. Pentagrass gesellte sich zu uns. Der Maler, der manchmal hier isst. Mit den beiden Melonen und den Anzügen, die seine Frau geschneidert hat, und die wir jetzt tragen. Erinnerst du dich?”
Paul nickte. “Er forderte uns auf, die Hüte aufzusetzen, und dann —“
Doch da offenbarte sich plötzlich die Welt. Paul, zutiefst erschüttert, schaute sich um. Da, wo er sich befand, wo er mit dem Griff eines Schirms oder eines Sticks herumstocherte, war noch immer nichts. Doch auf einmal hatte er Angst, dass er, würde er nicht aufhören, plötzlich etwas finden würde – Stoff eines zerrissenen Kleides, von dem er sofort wüsste, dass es Clara oder Selma gehören würde. Er liess den Griff fallen, wirbelte herum und rief aufgeregt, “Ich muss mich beeilen – ich muss mich mehr um meine Töchter kümmern. Lass uns gehen. Robert, schnell, jetzt, da es möglich ist!”
Robert schüttelte seinen Kopf. “Ich gehöre hierher, Paul. Ich habe das noch nie so gespürt wie jetzt. Es tut mir leid, wenn ich dich geschlagen habe – habe ich das wirklich? Und habe ich wirklich Johan entlassen? Sag ihm, er könne zurückkommen. Sag ihm, dass er sich um die Restaurants kümmern solle. Bis ich wieder da bin, ist er dir gegenüber verantwortlich. Natürlich nur, wenn dir das recht ist.”
Paul nickte. “Natürlich ist es das, Robert.”
Sie umarmten sich, erst abtastend, dann ungestüm. Einer blieb, der andere ging. Einer wurde der Hüter der Weissen Zylinder, der andere folgte dem Pfad der Weissen Zylinder. Sie waren beide glücklich, auf ihre Weise. Sie waren Brüder. Ihre Namen waren Robert und Paul.
©2010 Christoph Keller | Aris Kalaizis
Christoph Keller, geboren 1963 in St. Gallen, ist der Autor mehrerer Romane, Essays und Theaterstücke, zuletzt die Erzählung “A Few Familiar Things” (2003), der autobiografische Roman “Der beste Tänzer” (2003), das Stück “Die Stiftung” (2004) sowie die Fotoausstellung “Eye Catcher” (New York, 2006). Im Frühjahr 2008 erschien “Der Stand der letzten Dinge”, der dritte Roman, den er zusammen mit Heinrich Kuhn als Keller+Kuhn veröffentlicht hat. Er lebt mit seiner Frau, der Lyrikerin Jan Heller Levi, in St. Gallen und New York. Dies ist seine dritte Erzählung nach einem Bild von Aris Kalaizis.