Aris Kalaizis

Konzentrierte Kontingenz

Der Ber­liner Journ­al­ist Tom Mus­troph bes­chreibt in seinem Essay 15 Jahre nach dem Fall der Mauer, den Leipzi­ger Maler Aris Kala­izis seine Jagd nach Bildern, die Zeit in der DDR sow­ie die fortwährende Liebe zum Fußball

Aris Kalaizis | Fargo I | Öl auf Leinwand | 140 x 175 cm | 2002
Aris Kalaizis | Fargo I | Öl auf Leinwand | 140 x 175 cm | 2002

Aris Kala­izis ist ein Meister des Rät­sel­haften. Ein Teil sein­er Meister­schaft ber­uht dar­in, den Betrachter in Sich­er­heit zu wie­gen. Die Details sein­er Bilder sind dem All­tag ent­nom­men. Sie muten harm­los an: eine Beton­wand, eine Rasen­fläche, ein Wald­stück, hal­b­trans­par­ente Glas­fron­ten, dazwis­chen gewöhn­liche Menschen. Aus diesen Ele­men­ten ver­fer­tigt Kala­izis einem Demi­ur­gen gleich Wel­ten, die wir zu kennen schein­en, die wir zu bevölkern glauben, die jedoch eine Intens­ität auf­weis­en, eine Aura, ja eine Anmu­tung jenes Geheim­nisvol­len und auch Bed­roh­lichen, das wir aus unser­em All­tag getil­gt zu haben mein­en – und das uns hier im Gewande des Banalen auf den Pelz rückt. „Broad Street no 100“ etwa. Ein Foy­er in einem Büro­ge­bäude. Ein Wach­mann steht vor einem Aufzug. Seine Hand weist unge­fähr in die Rich­tung des Aufzugs. Er kön­nte jeman­dem den Weg zei­gen, ihn mit ein­er Geste passier­en lassen. Bei einem zweiten Blick stellt man fest: Der Wach­mann betrachtet seine Hand. Was sucht er dar­in? Er wird sich doch selbst aus der Hand lesen wollen. Ver­misst er die Waffe, die dar­in lag? Hat sie ihm jemand entwun­den, und er kann es noch immer nicht fassen? Was ist mit der Fig­ur am linken Bil­drand? Man sieht von ihr nur ein Bein, zwei Füße, ein­en Arm. Die Fig­ur scheint ersch­lafft. Ist alles Leben aus ihr gewichen? Hat der Zus­tand dieser Per­son etwas mit dem, was der Wach­mann offensicht­lich ver­misst, zu tun? Ist das ein Tatort? Wo ist dann der Täter? Die Bild­mitte, der Ort, wo das Ges­chehen sich konzentri­er­en müsste, ist ver­lassen. Keine Spur am Boden. Geradezu unnatür­lich sauber ist der Boden. Lichtre­flexe spielen auf der Wand. Sind sie Zeichen? Kann man in der Spiegel­ung etwas erkennen?


Unverse­hens steigt man ein in das Bild, ver­sucht, die Bez­iehun­gen der Fig­uren zu ana­lysier­en und Objekte zu deu­ten. Man kann das eine Weile betreiben, und wird doch nicht den let­zten Grund erreichen. Im Gegen­teil, man wird noch mehr ver­wir­rt, weil die Ver­mu­tung aufkom­mt, dass all das, was wir in die Fig­uren­bez­iehun­gen und die Orte hinein­le­gen, von uns kom­mt; dass wir als Betrachter Kala­izis’ Arrange­ments als Bühnen­bild dessen, was wir sehen wollen – und zu sehen fürcht­en – gebrauchen. 
Der Maler selbst enthält sich der Bes­chreibung sein­er Bilder und erklärt überzeu­gend, nicht auf Raffi­nesse aus zu sein: „Meine Arbeit ist form­al. Die Bildkom­pos­i­tion ist durch For­men gelen­kt, nicht durch Inhalte, nicht durch eine Inszen­ier­ung.“ Doch war­um appel­lier­en gerade Kala­izis’ Bilder so sehr nach Entschlüs­se­lung, vor allem: war­um entlar­ven sie Entschlüs­se­lungs­ver­suche als sys­tem­at­isch vergeb­lich und ind­iz­ier­en sie doch wieder? War­um wird dieser Prozess so massiv von sein­en Werken aus­gelöst und nicht von den­en jedes beliebi­gen anderen? 
In Kala­izis’ Arbeiten befin­d­et sich eine Ambi­gu­ität, ein Spiel der Spiegel­un­gen und rezi­proken Täuschun­gen, eine mäandernde Unter­höhlung der Fun­da­mente des für sich­er Gehalten­en, wie sie in der Lit­er­at­ur Thomas Pyn­chon meister­haft zum Aus­druck geb­racht hat.
Den Schich­tun­gen von Kala­izis’ Werk nachzuge­hen sei mir in Form der Rekapit­u­la­tion der Folge von Begegnun­gen gestattet. 


Kennen Lernen I


Am Anfang war ein Auftrag. Ein Anruf aus der Redak­tion: „Ach, geh doch mal zu ein­er jun­gen Galer­ie in Char­lot­ten­burg und schau Dir das an. Da stellt ein jun­ger Maler aus Leipzig aus. Aus dem wird ein­mal etwas.“ Sol­chen Rat ein­er Redak­teur­in – „Leipzi­ger Schule“ ist seit Mitte der 90er Jahre schließ­lich zur Faust­formel des Wel­ter­folgs avan­ciert – schlägt der freie Journ­al­ist nicht aus und auf dem Weg ins Wochen­ende nach Buck­ow, Brechts Buck­ow, wird kurz ein­mal Halt gemacht in der Quick­sil­ver Galer­ie. Kurz Halt? 
Eine Gruppe von Bildern, teils noch am Boden stehend, teils nur pro­vis­or­isch bes­chriftet – die Aus­s­tel­lung („Bran­card“, 2003) soll erst am Abend eröffnet wer­den – eine Gruppe von Bildern also nagelt den Blick des Betrachters fest.

Fargo II | Öl auf Leinwand | 140 x 175 cm | 2002/03
Fargo II | Öl auf Leinwand | 140 x 175 cm | 2002/03

Beton­fußboden, Beton­wand bis in Hüfthöhe, darüber ein Maschendrahtza­un. Auf dem Boden zwei Menschen, offensicht­lich gerade gestürzt, die Hände noch wie zum Schutz aus­gebreit­et. Über sie stürmt ein Mann hin­weg. Er hat noch die gan­ze Breite der Lein­wand („Fargo II“, 1,40m x 1,75m) zu durchquer­en. Das Augen­paar der auf dem Trot­toir lie­genden Frau ver­sucht die Augen des Fliehenden zu fix­ier­en. Will sie in ihnen lesen? Sen­det sie Abwehr­sig­nale? Ihr gleich­falls in der Hori­zontalen befind­lich­er Beg­leit­er hinge­gen schaut aus dem Bild heraus, in die Rich­tung, in die der andere eilt. Was mag er dort sehen? Eine Bed­ro­hung? Ein Opfer? Den Aus­löser der Kata­strophe? Ist der rennende Mann ein Held? Ein Ver­brech­er? Ein Hilfspolizist?
Eine andere Szen­er­ie („Die große Hoffnung“): Beton­boden auch hier. Eine aus grün­lichen Stein­en gemauerte Wand eines Indus­triebaus. Eine stählerne Tür. Ein Mann auf dem Boden, der Rück­en an die Tür gelehnt. Ein Pen­ner wahr­schein­lich. Er wirft ein­er Frau – der kur­ze schwar­ze Man­tel, den sie über die weiße Unter­wäsche gewor­fen hat, ent­blößt sie eher anstatt sie zu ver­hül­len – eine orangene Plastiktüte zu. Es ist ein Ruf um Aufmerksamkeit, ein Schutzange­bot, zugleich eine Anmache. Blitzartig wer­den die Zustände von Not und Verelendung klar, in den­en die beiden Gestal­ten steck­en müssen.
Das lieb­liche Buck­ow, Brechts Buck­ow, das gemüt­liche Wochen­ende – all das ist auf ein­mal ver­gessen. Die Fre­und­in, unten im Auto gelassen – man woll­te ja nur mal „schnell hoch“ und sich ein­en Überblick ver­schaf­fen – sie ist nicht aus dem Herzen ger­utscht, aber muss doch warten. Denn weit­ere Lein­wände fordern unmit­tel­bare, unbedingte Aufmerksamkeit.


„Fargo I“ etwa. Es liefert nicht – wie man laut Titel ver­muten kön­nte – die Ursache für die Ver­wir­rung in „Fargo II“; es ist kein Vorläufer­bild, viel­mehr eine andere Epis­ode, eine Vari­ation des Them­as. Drei Prot­ag­on­isten, wenn auch in ander­er Kleidung, erken­nt man wieder. Zwei kauern am Boden, suchen unwillkür­lich Schutz hinter der hüftho­hen Beton­wand. Ein­er, aufrecht, blickt, dem Fin­gerzeig ein­er neuen Fig­ur fol­gend, in die Ferne. Eine Bed­ro­hung, eine plötz­liche Änder­ung des Zus­tandes ist aus­zu­machen. Doch kann man sie nicht direkt beo­bacht­en, nur ablesen aus den Gesichtern und Hal­tun­gen der Sehenden. Wir haben ein­en Chor vor uns, eine Abart des anti­ken Chores, der über die Mauer der Stadt blickt und den auf der Agora Ver­har­renden verkün­det, was ihnen naht, was ihnen dro­ht, was vorbeiz­iehen mag. Nur singt dieser Chor nicht. Seine Form­a­tion, in der das Indi­vidu­elle so gut aufge­hoben war, ist zer­sto­ben. Erre­gung hat ihn ver­stum­men, in ein­zel­ne Fig­uren sich auflösen lassen. Was diese sehen, hat sich unmit­tel­bar ihr­er Körp­er bemächtigt, ist in sie gefahren und trägt dort jen­en Kampf aus, dessen Zeu­gen wir nun sind, die wir ver­suchen, des eigent­lichen Aus­lösers habhaft zu werden.


Buck­ow ist in weit­ere Ferne ger­utscht; was soll man in ein­er lieb­lichen Land­schaft, überbes­chrieben von Verehr­ern eines Meisters, der selbst aus­gedeutet ist in Tonnen von Papi­er, Jahrzehnten von Bühnenges­chehen? Win­zig dage­gen ist die Zeit­spanne, die man sich diesen teils noch Terpent­in aus­at­menden Lein­wänden wid­met; win­zig auch im Ver­hält­nis zu der Zeit, die der Maler vor einem Bild ver­bringt. Man fühlt sich aufge­fordert, „Gerechtigkeit“ herzus­tel­len, Gerechtigkeit in der Dauer der Beschäf­ti­gung; man will „Chan­cengleich­heit“ erreichen, um Beweg­gründe, Lini­en­führungen, Entstehungs­geschicht­en, Kon­stel­la­tion­en zu entschlüs­seln. Buck­ow darf warten.


Kala­izis, so stellt sich heraus, malt Filme. Er malt sie nicht ab. Denn wo etwa ist in sein­en „Fargo“ Min­nesotas Schnee geblieben, der im Film der Gebrüder Coen Chif­fre der allum­fassenden Ver­lassen­heit ist, gleichzeit­ig in sein­er Allum­fassen­heit jedes dis­par­ate Leben feind­lich-fre­und­lich mitein­ander ver­bind­et? Des Malers Schnee sind Beton, Maschendrahtza­un und einge­friede­ter Rasen. Jeden­falls in Europa, in Leipzig, wo Rasen unwillkür­lich an einem Maschendrahtza­un endet. 
Sowenig wie Kala­izis Filme nur auf die Lein­wand ver­längert, sowenig sind seine Bilder stillges­tell­te, aus dem Fluss der Zeit heraus­gelöste Film­bil­der. Dazu sind sie zu rein, zu offen­kun­dig kon­stru­iert. Kein Riss befin­d­et sich im Beton. Keine Zigar­etten­kippe, keine Cola-Dose, kein toter Vogel lie­gen auf dem Boden. Die Real­ität ist nicht real­istisch, son­dern abstrakt. 
Dieser erste Eindruck ver­stärkt sich im Gespräch. Der Maler, mit der Hän­gung sein­er Bilder für die Aus­s­tel­lung beschäftigt, erklärt, dass er zun­ächst aus sein­er unmit­tel­bar­en Umge­bung schöpfe. Doch reduziert er die Fülle der Details, die ihm der Weg zwis­chen Wohnung und Atelier liefert, auf wenige Ele­mente. Leipzigs pit­toresk ver­rot­tete Fab­rikar­chitek­tur ist dah­er nicht wiederzuerkennen. Die Szen­er­ie wirkt kühl, klar und inszen­iert. Ein wenig arti­fiz­i­ell, „amerik­an­isch nüchtern“, wie man in einem seine Partiku­lar­ität wieder betonen­dem Europa gerne sagt. 


Der Kon­struk­tion­sprozess geht lang­sam von­stat­ten, ver­rät Kala­izis. Zuerst geht er auf Bilder­suche. Er jagt For­men, ban­nt sie mit der Kam­era. Dann wird die „Beute“ gesichtet, sortiert. Schließ­lich wählt er eine Auf­nahme aus, die nichts als das wirk­lich Not­wendige enthält. Er erklärt sie zum Fun­da­ment sein­er kon­stru­i­er­enden Phant­as­ie und hängt sie sich übers Bett. Und sin­niert. Und träumt. Und schläft. Exper­i­mentiert im Geiste mit Sichtach­sen, Lichtver­hält­n­is­sen, der Far­bpalette, dem Ver­hält­nis von von schar­fen und weichen For­men. Eher unbe­wusst kristal­lis­iert sich eine Kon­stel­la­tion heraus, die oft noch bevölkert wird. Nicht von Per­son­en, da miss­ver­steht der Betrachter den Maler, son­dern von weit­er­en For­men. Sie ähneln Per­son­en, gewiss, dem Fre­und, dem Kritiker, dem Kolle­gen, dem Galer­isten, der Gat­tin. Doch han­delt es sich nicht um Per­son­en, son­dern um Ele­mente, heraus­geris­sen aus dem All­tag, iso­liert, im Kopf als Schemata auf­be­wahrt, um später in ein­en Bildkon­text geb­racht zu wer­den. Ihre Präsenz lässt sie im Bild als pure Form allerd­ings ver­gessen. Man ist wohl doch noch zu sehr bei Brecht, bei Fig­uren, die sich in Machtge­fü­gen verorten, Prot­ag­on­isten von Ord­nun­gen sind, mit Fleisch gefüll­te Prin­zipi­en und eben nicht nur Formen.


Kennen Lernen II


Eine zweite Begegnung, kurz vor der ersten großen Werkschau von Kala­izis („Ungewisse Jag­den“, 2005, Mar­burg), ist zun­ächst von eher Per­sön­li­chem geprägt. Wir stel­len fest, fast der gleiche Jahr­gang zu sein, früh­er Fußball geliebt – und dabei stets den klein­en Ver­ein­en, den aufmüp­fi­gen, den­en ohne Geld (Chemie Leipzig und Uni­on Ber­lin) ange­han­gen – zu haben, ja wir wer­den sog­ar bei entscheidenden Spielen am gleichen Ort, im gleichen Sta­di­on, halt nur auf unter­schied­lichen Seiten gewesen sein. Wir haben die DDR erlebt, sind in ihr aufge­wach­sen, mit all den Sich­er­heiten, die heute fehlen, all den Bes­chränkun­gen, die uns aufer­legt war­en – an der­en Stelle nun ein­ige neue getre­ten sind, aber diese Diskus­sion würde den Kata­log spren­gen. Aris Kala­izis ist als Sohn griech­is­cher Emig­ranten aufge­wach­sen, als Sohn von Kindern, die von ihren im Bür­gerkrieg um Leib und Leben fürchtenden Eltern in die DDR geb­racht wur­den. Obgleich integ­riert war­en sie doch Träger ein­er ander­en Kul­tur, die oft – von en ander­en – insge­heim bewun­dert wurde, die sich aber nicht so recht aus­leben kon­nte, die aus der Erin­ner­ung lebte und – das mussten die Bet­ro­f­fen­en nach 1989 erfahren – sich als Amal­gam von der Ursprung­skul­tur, die ja auch Ver­än­der­ungen unter­wor­fen war, ent­fernt hatte. Diese Pos­i­tion des Ungewis­sen, des manch­mal in sich Gekehrten, des ver­schlossen Nachden­k­lichen ist man gerne geneigt, im Werk des Sohnes der Emig­ranten wiederzufind­en. Doch wäre dies zu determ­in­istisch gedacht, zu sehr den Menschen in sein­er vol­len und wider­sprüch­lichen Aus­prä­gung, den Künst­ler zumal als Skelett des Sozialen begriffen.

Memento | Öl auf Leinwand | 80 x 110 cm | 2004
Memento | Öl auf Leinwand | 80 x 110 cm | 2004

Über Filme unter­hal­ten wir uns noch, „Fargo“ natür­lich, die zeiträum­lichen Ver­schachtelun­gen von „Mat­rix“, die düster­en Alleg­ori­en in „Sev­en“; begeistert erzählt Kala­izis von Chris­toph­er Nolans Thrill­er „Memento“. Unwillkür­lich gelan­gen wir zum Thema Zwis­chen­räume, Unbestim­mtheiten, Ambi­gu­itäten. Gute Film­re­gis­seure definier­en die Unbestim­mtheiten, in den­en sie ihre Betrachter wild semi­ot­is­ier­en lassen. Gute Maler auch. Die Ambi­gu­itäten in ihr­em Werk sind jedoch keine Aus­las­sun­gen, son­dern Kontin­gen­zen, Mehr­fachbedeu­tun­gen, sich über­la­gernde Festle­gun­gen. Kala­izis schildert zögernd, wie er seine Bilder baut, wie er auf Blick­achsen achtet, auf Lichtein­fall und Per­spekt­iven. Jedes Detail, ob Stein oder Grashalm im Hin­ter­grund, ob Fal­ten­wurf in der Kleidung oder Körper­hal­tung, ist Folge eines strengen Gedankenspiels. 
Aus der Intens­ität dieser Beschäf­ti­gung rührt die Intens­ität jedes Details. Es ist mit einem Über­schuss an Bestim­mung aufge­laden, der den Betrachter dazu auffordert, in die Tiefe der Dinge einzudringen.


Kennen Lernen III


Es ist sel­ten, dass man das Werk eines zeit­genöss­is­chen Künst­lers in sein­en Brüchen, sein­er Entwicklung, sein­en aus­ge­führten Lini­en überblick­en kann. Der Kun­st­markt, not­wendiges Instru­ment für den Leben­sun­ter­halt der Maler und der Galer­ie-Infrastruk­tur, ver­ein­zelt die Arbeiten und ver­birgt sie vor dem öffent­lichen Auge. Vor allem das Früh­werk, meist wenig pub­liz­iert, manch­mal ver­schämt ver­bor­gen, manch­mal zur Legende verklärt, ent­zieht sich der Über­prü­fung. Ret­ro­spekt­iven sind dah­er not­wendig, selbst wenn dies Wort hoch­mütig klingt bei einem (dam­als) noch nicht 40 jährigen Künst­ler, der zudem noch nicht ein­mal ein Dezen­ni­um „im Geschäft“ war. Die Werkschau „Ungewisse Jag­den“ (Kun­sthalle Mar­burg, 2005) zeigte ein­en vom Fleisch, von der Mater­i­al­ität der Dinge bee­in­flussten Maler. Ein­en jun­gen Künst­ler, der von der Wucht eines Fran­cis Bacon beeindruckt war, der sich die Monu­ment­al­ität des Fleisches, des mensch­lichen wie des tierischen, aber selbst ermalen wollte. 
Auf aus­ge­weidete Tierka­da­ver und abgen­om­mene mensch­liche Glied­maßen hatte sich der Kun­st­stu­dent gestürzt. Doch schwel­gt er nicht in Blut- und Fleis­chor­gi­en. Unbe­stech­lichen Blickes sortiert Kala­izis bereits 1995 (Trip­ty­chon „Titel dem Künst­ler noch nicht bekan­nt“) Gegen­stände nach Ähn­lich­keiten in Farbe und Form und präsen­tiert sie nüchtern auf einem ana­tomis­chen Altar. Dabei set­zt er auf den Kon­trast als Gestal­tungsele­ment. Die Mont­age bleibt als Mont­age sicht­bar, erst recht, wenn Kala­izis Bilder in Di- und Trip­tychen aufspaltet.


„Ungewisse Jag­den“ stell­te auch ein­en bildenden Künst­ler vor, der – auf der “Leipzi­ger Schule“, wo sonst? – gel­ernt hatte, den Abbildungs- und Darstel­lungs­ver­fahren zu mis­strauen. Aus unter­schied­lich­sten Bildquel­len set­zen sich seine Werke zusam­men. Dekor­at­ive Muster, antiquierte Schriftzüge, Ele­mente aus Schnittmus­ter­bö­gen, Vign­etten und die bereits bekan­nten rohen Fleis­chstücke über­la­gern sich in den 1999/2000 entstanden­en Arbeiten.Sie sind Aus­druck uni­versell­er Sinnsuche. Mit feinem Strich umris­sene mensch­liche Körp­er wer­den mit Abbildun­gen aus Wis­senschaft, Pop­ulär­wis­senschaft und Kitsch kon­fron­tiert. Kala­izis unter­sucht Ath­leten­körp­er, so auf die DHfK ver­weis­end, die Leipzi­ger Schule des Sports, die in den 70er und 80er Jahr­fen Welt­gel­tung errang.


Ein Schlüs­sel­werk jen­er Zeit „Übun­gen zur Meister­schaft“. Vier unter­schied­liche Bild­schicht­en tref­fen aufein­ander: das real­istisch gehaltene Porträt ein­er split­ter­nack­ten Mut­ter mit Kind, die ent­färbte, fast aus­ge­waschene Rück­en­ansicht eines Mannes, eine zer­laufende, aus der Hand dieses Mannes kom­mend schein­ende schmutzig­graue Farb­fläche und ein Licht­strahl, der durch die ander­en Bildele­mente fährt und sie –sich dabei ver­ändernd – gleich­sam ver­bind­et. „Übun­gen zur Meister­schaft“ ist eine Selb­st­be­fra­gung, stellt sie die lichte Mut­ter-Kind-Fig­ur in Kon­trast zum unablässigen, iso­lier­ten All­tag vor der Lein­wand. Doch wächst die Sil­hou­ette des Malers in die Bild­hälfte von Mut­ter und Kind hinein, ist in ihr anwesend, während der Arm mit dem Pin­sel ins Atelier hinein­wächst und stoisch seine not­wendige Tätigkeit vollführt.


Drei Schu­len von Kala­izis sind wir bis­lang begegnet – der Raum und Zeit auf­spal­tenden Nar­ra­tion des post­mo­d­ernen Kinos, der Monu­ment­al­ität des Fleisches eines Fran­cis Bacon, der Bild­schich­tung eines Sig­mar Polke. Genan­nt wer­den müsste noch Jusepe Rib­era. Beim span­is­chen Barock­maler schätzt Kala­izis die dram­at­ische Fig­uren­kon­stel­la­tion, das Ringen um ein­en Aus­weg auch in düster­ster Aus­gangslage, die unmit­tel­bare Verheißung.
Bei Kala­izis über­set­zt sich die Leidenschaft des Barocks in Mel­an­cholie. Jeder ringt für sich allein, wen­det den Blick nach innen, sei es der aus dem Haus gewor­fene Mann in „Das Heim“, sei­en es die fünf Fig­uren in „Die Stunde der unnachahm­lichen Offen­bar­ung“. In jedem ist Hof­fen, in jedem ist Zagen. 


Ist jet­zt Kala­izis „erklärt“? Ich hoffe nicht, denn die schön­ste Beschäf­ti­gung ist doch, sich von den Bildern ein­fan­gen zu lassen und in sie zu drin­gen, jeden Tag neu, bis man als Betrachter die „Beschäf­ti­gungsgerechtigkeit“ erlangt hat.

©2006 Tom Mus­troph | Aris Kalaizis


(Quelle: Mono­grafie ‚Rub­ba­cord’, Ker­ber-Ver­lag, 2006)


Tom Mus­troph, freier Autor, lebt in Ber­lin und Palermo

© Aris Kalaizis 2024