Konzentrierte Kontingenz
Der Berliner Journalist Tom Mustroph beschreibt in seinem Essay 15 Jahre nach dem Fall der Mauer, den Leipziger Maler Aris Kalaizis seine Jagd nach Bildern, die Zeit in der DDR sowie die fortwährende Liebe zum Fußball
Aris Kalaizis ist ein Meister des Rätselhaften. Ein Teil seiner Meisterschaft beruht darin, den Betrachter in Sicherheit zu wiegen. Die Details seiner Bilder sind dem Alltag entnommen. Sie muten harmlos an: eine Betonwand, eine Rasenfläche, ein Waldstück, halbtransparente Glasfronten, dazwischen gewöhnliche Menschen. Aus diesen Elementen verfertigt Kalaizis einem Demiurgen gleich Welten, die wir zu kennen scheinen, die wir zu bevölkern glauben, die jedoch eine Intensität aufweisen, eine Aura, ja eine Anmutung jenes Geheimnisvollen und auch Bedrohlichen, das wir aus unserem Alltag getilgt zu haben meinen – und das uns hier im Gewande des Banalen auf den Pelz rückt. „Broad Street no 100“ etwa. Ein Foyer in einem Bürogebäude. Ein Wachmann steht vor einem Aufzug. Seine Hand weist ungefähr in die Richtung des Aufzugs. Er könnte jemandem den Weg zeigen, ihn mit einer Geste passieren lassen. Bei einem zweiten Blick stellt man fest: Der Wachmann betrachtet seine Hand. Was sucht er darin? Er wird sich doch selbst aus der Hand lesen wollen. Vermisst er die Waffe, die darin lag? Hat sie ihm jemand entwunden, und er kann es noch immer nicht fassen? Was ist mit der Figur am linken Bildrand? Man sieht von ihr nur ein Bein, zwei Füße, einen Arm. Die Figur scheint erschlafft. Ist alles Leben aus ihr gewichen? Hat der Zustand dieser Person etwas mit dem, was der Wachmann offensichtlich vermisst, zu tun? Ist das ein Tatort? Wo ist dann der Täter? Die Bildmitte, der Ort, wo das Geschehen sich konzentrieren müsste, ist verlassen. Keine Spur am Boden. Geradezu unnatürlich sauber ist der Boden. Lichtreflexe spielen auf der Wand. Sind sie Zeichen? Kann man in der Spiegelung etwas erkennen?
Unversehens steigt man ein in das Bild, versucht, die Beziehungen der Figuren zu analysieren und Objekte zu deuten. Man kann das eine Weile betreiben, und wird doch nicht den letzten Grund erreichen. Im Gegenteil, man wird noch mehr verwirrt, weil die Vermutung aufkommt, dass all das, was wir in die Figurenbeziehungen und die Orte hineinlegen, von uns kommt; dass wir als Betrachter Kalaizis’ Arrangements als Bühnenbild dessen, was wir sehen wollen – und zu sehen fürchten – gebrauchen.
Der Maler selbst enthält sich der Beschreibung seiner Bilder und erklärt überzeugend, nicht auf Raffinesse aus zu sein: „Meine Arbeit ist formal. Die Bildkomposition ist durch Formen gelenkt, nicht durch Inhalte, nicht durch eine Inszenierung.“ Doch warum appellieren gerade Kalaizis’ Bilder so sehr nach Entschlüsselung, vor allem: warum entlarven sie Entschlüsselungsversuche als systematisch vergeblich und indizieren sie doch wieder? Warum wird dieser Prozess so massiv von seinen Werken ausgelöst und nicht von denen jedes beliebigen anderen?
In Kalaizis’ Arbeiten befindet sich eine Ambiguität, ein Spiel der Spiegelungen und reziproken Täuschungen, eine mäandernde Unterhöhlung der Fundamente des für sicher Gehaltenen, wie sie in der Literatur Thomas Pynchon meisterhaft zum Ausdruck gebracht hat.
Den Schichtungen von Kalaizis’ Werk nachzugehen sei mir in Form der Rekapitulation der Folge von Begegnungen gestattet.
Kennen Lernen I
Am Anfang war ein Auftrag. Ein Anruf aus der Redaktion: „Ach, geh doch mal zu einer jungen Galerie in Charlottenburg und schau Dir das an. Da stellt ein junger Maler aus Leipzig aus. Aus dem wird einmal etwas.“ Solchen Rat einer Redakteurin – „Leipziger Schule“ ist seit Mitte der 90er Jahre schließlich zur Faustformel des Welterfolgs avanciert – schlägt der freie Journalist nicht aus und auf dem Weg ins Wochenende nach Buckow, Brechts Buckow, wird kurz einmal Halt gemacht in der Quicksilver Galerie. Kurz Halt?
Eine Gruppe von Bildern, teils noch am Boden stehend, teils nur provisorisch beschriftet – die Ausstellung („Brancard“, 2003) soll erst am Abend eröffnet werden – eine Gruppe von Bildern also nagelt den Blick des Betrachters fest.
Betonfußboden, Betonwand bis in Hüfthöhe, darüber ein Maschendrahtzaun. Auf dem Boden zwei Menschen, offensichtlich gerade gestürzt, die Hände noch wie zum Schutz ausgebreitet. Über sie stürmt ein Mann hinweg. Er hat noch die ganze Breite der Leinwand („Fargo II“, 1,40m x 1,75m) zu durchqueren. Das Augenpaar der auf dem Trottoir liegenden Frau versucht die Augen des Fliehenden zu fixieren. Will sie in ihnen lesen? Sendet sie Abwehrsignale? Ihr gleichfalls in der Horizontalen befindlicher Begleiter hingegen schaut aus dem Bild heraus, in die Richtung, in die der andere eilt. Was mag er dort sehen? Eine Bedrohung? Ein Opfer? Den Auslöser der Katastrophe? Ist der rennende Mann ein Held? Ein Verbrecher? Ein Hilfspolizist?
Eine andere Szenerie („Die große Hoffnung“): Betonboden auch hier. Eine aus grünlichen Steinen gemauerte Wand eines Industriebaus. Eine stählerne Tür. Ein Mann auf dem Boden, der Rücken an die Tür gelehnt. Ein Penner wahrscheinlich. Er wirft einer Frau – der kurze schwarze Mantel, den sie über die weiße Unterwäsche geworfen hat, entblößt sie eher anstatt sie zu verhüllen – eine orangene Plastiktüte zu. Es ist ein Ruf um Aufmerksamkeit, ein Schutzangebot, zugleich eine Anmache. Blitzartig werden die Zustände von Not und Verelendung klar, in denen die beiden Gestalten stecken müssen.
Das liebliche Buckow, Brechts Buckow, das gemütliche Wochenende – all das ist auf einmal vergessen. Die Freundin, unten im Auto gelassen – man wollte ja nur mal „schnell hoch“ und sich einen Überblick verschaffen – sie ist nicht aus dem Herzen gerutscht, aber muss doch warten. Denn weitere Leinwände fordern unmittelbare, unbedingte Aufmerksamkeit.
„Fargo I“ etwa. Es liefert nicht – wie man laut Titel vermuten könnte – die Ursache für die Verwirrung in „Fargo II“; es ist kein Vorläuferbild, vielmehr eine andere Episode, eine Variation des Themas. Drei Protagonisten, wenn auch in anderer Kleidung, erkennt man wieder. Zwei kauern am Boden, suchen unwillkürlich Schutz hinter der hüfthohen Betonwand. Einer, aufrecht, blickt, dem Fingerzeig einer neuen Figur folgend, in die Ferne. Eine Bedrohung, eine plötzliche Änderung des Zustandes ist auszumachen. Doch kann man sie nicht direkt beobachten, nur ablesen aus den Gesichtern und Haltungen der Sehenden. Wir haben einen Chor vor uns, eine Abart des antiken Chores, der über die Mauer der Stadt blickt und den auf der Agora Verharrenden verkündet, was ihnen naht, was ihnen droht, was vorbeiziehen mag. Nur singt dieser Chor nicht. Seine Formation, in der das Individuelle so gut aufgehoben war, ist zerstoben. Erregung hat ihn verstummen, in einzelne Figuren sich auflösen lassen. Was diese sehen, hat sich unmittelbar ihrer Körper bemächtigt, ist in sie gefahren und trägt dort jenen Kampf aus, dessen Zeugen wir nun sind, die wir versuchen, des eigentlichen Auslösers habhaft zu werden.
Buckow ist in weitere Ferne gerutscht; was soll man in einer lieblichen Landschaft, überbeschrieben von Verehrern eines Meisters, der selbst ausgedeutet ist in Tonnen von Papier, Jahrzehnten von Bühnengeschehen? Winzig dagegen ist die Zeitspanne, die man sich diesen teils noch Terpentin ausatmenden Leinwänden widmet; winzig auch im Verhältnis zu der Zeit, die der Maler vor einem Bild verbringt. Man fühlt sich aufgefordert, „Gerechtigkeit“ herzustellen, Gerechtigkeit in der Dauer der Beschäftigung; man will „Chancengleichheit“ erreichen, um Beweggründe, Linienführungen, Entstehungsgeschichten, Konstellationen zu entschlüsseln. Buckow darf warten.
Kalaizis, so stellt sich heraus, malt Filme. Er malt sie nicht ab. Denn wo etwa ist in seinen „Fargo“ Minnesotas Schnee geblieben, der im Film der Gebrüder Coen Chiffre der allumfassenden Verlassenheit ist, gleichzeitig in seiner Allumfassenheit jedes disparate Leben feindlich-freundlich miteinander verbindet? Des Malers Schnee sind Beton, Maschendrahtzaun und eingefriedeter Rasen. Jedenfalls in Europa, in Leipzig, wo Rasen unwillkürlich an einem Maschendrahtzaun endet.
Sowenig wie Kalaizis Filme nur auf die Leinwand verlängert, sowenig sind seine Bilder stillgestellte, aus dem Fluss der Zeit herausgelöste Filmbilder. Dazu sind sie zu rein, zu offenkundig konstruiert. Kein Riss befindet sich im Beton. Keine Zigarettenkippe, keine Cola-Dose, kein toter Vogel liegen auf dem Boden. Die Realität ist nicht realistisch, sondern abstrakt.
Dieser erste Eindruck verstärkt sich im Gespräch. Der Maler, mit der Hängung seiner Bilder für die Ausstellung beschäftigt, erklärt, dass er zunächst aus seiner unmittelbaren Umgebung schöpfe. Doch reduziert er die Fülle der Details, die ihm der Weg zwischen Wohnung und Atelier liefert, auf wenige Elemente. Leipzigs pittoresk verrottete Fabrikarchitektur ist daher nicht wiederzuerkennen. Die Szenerie wirkt kühl, klar und inszeniert. Ein wenig artifiziell, „amerikanisch nüchtern“, wie man in einem seine Partikularität wieder betonendem Europa gerne sagt.
Der Konstruktionsprozess geht langsam vonstatten, verrät Kalaizis. Zuerst geht er auf Bildersuche. Er jagt Formen, bannt sie mit der Kamera. Dann wird die „Beute“ gesichtet, sortiert. Schließlich wählt er eine Aufnahme aus, die nichts als das wirklich Notwendige enthält. Er erklärt sie zum Fundament seiner konstruierenden Phantasie und hängt sie sich übers Bett. Und sinniert. Und träumt. Und schläft. Experimentiert im Geiste mit Sichtachsen, Lichtverhältnissen, der Farbpalette, dem Verhältnis von von scharfen und weichen Formen. Eher unbewusst kristallisiert sich eine Konstellation heraus, die oft noch bevölkert wird. Nicht von Personen, da missversteht der Betrachter den Maler, sondern von weiteren Formen. Sie ähneln Personen, gewiss, dem Freund, dem Kritiker, dem Kollegen, dem Galeristen, der Gattin. Doch handelt es sich nicht um Personen, sondern um Elemente, herausgerissen aus dem Alltag, isoliert, im Kopf als Schemata aufbewahrt, um später in einen Bildkontext gebracht zu werden. Ihre Präsenz lässt sie im Bild als pure Form allerdings vergessen. Man ist wohl doch noch zu sehr bei Brecht, bei Figuren, die sich in Machtgefügen verorten, Protagonisten von Ordnungen sind, mit Fleisch gefüllte Prinzipien und eben nicht nur Formen.
Kennen Lernen II
Eine zweite Begegnung, kurz vor der ersten großen Werkschau von Kalaizis („Ungewisse Jagden“, 2005, Marburg), ist zunächst von eher Persönlichem geprägt. Wir stellen fest, fast der gleiche Jahrgang zu sein, früher Fußball geliebt – und dabei stets den kleinen Vereinen, den aufmüpfigen, denen ohne Geld (Chemie Leipzig und Union Berlin) angehangen – zu haben, ja wir werden sogar bei entscheidenden Spielen am gleichen Ort, im gleichen Stadion, halt nur auf unterschiedlichen Seiten gewesen sein. Wir haben die DDR erlebt, sind in ihr aufgewachsen, mit all den Sicherheiten, die heute fehlen, all den Beschränkungen, die uns auferlegt waren – an deren Stelle nun einige neue getreten sind, aber diese Diskussion würde den Katalog sprengen. Aris Kalaizis ist als Sohn griechischer Emigranten aufgewachsen, als Sohn von Kindern, die von ihren im Bürgerkrieg um Leib und Leben fürchtenden Eltern in die DDR gebracht wurden. Obgleich integriert waren sie doch Träger einer anderen Kultur, die oft – von en anderen – insgeheim bewundert wurde, die sich aber nicht so recht ausleben konnte, die aus der Erinnerung lebte und – das mussten die Betroffenen nach 1989 erfahren – sich als Amalgam von der Ursprungskultur, die ja auch Veränderungen unterworfen war, entfernt hatte. Diese Position des Ungewissen, des manchmal in sich Gekehrten, des verschlossen Nachdenklichen ist man gerne geneigt, im Werk des Sohnes der Emigranten wiederzufinden. Doch wäre dies zu deterministisch gedacht, zu sehr den Menschen in seiner vollen und widersprüchlichen Ausprägung, den Künstler zumal als Skelett des Sozialen begriffen.
Über Filme unterhalten wir uns noch, „Fargo“ natürlich, die zeiträumlichen Verschachtelungen von „Matrix“, die düsteren Allegorien in „Seven“; begeistert erzählt Kalaizis von Christopher Nolans Thriller „Memento“. Unwillkürlich gelangen wir zum Thema Zwischenräume, Unbestimmtheiten, Ambiguitäten. Gute Filmregisseure definieren die Unbestimmtheiten, in denen sie ihre Betrachter wild semiotisieren lassen. Gute Maler auch. Die Ambiguitäten in ihrem Werk sind jedoch keine Auslassungen, sondern Kontingenzen, Mehrfachbedeutungen, sich überlagernde Festlegungen. Kalaizis schildert zögernd, wie er seine Bilder baut, wie er auf Blickachsen achtet, auf Lichteinfall und Perspektiven. Jedes Detail, ob Stein oder Grashalm im Hintergrund, ob Faltenwurf in der Kleidung oder Körperhaltung, ist Folge eines strengen Gedankenspiels.
Aus der Intensität dieser Beschäftigung rührt die Intensität jedes Details. Es ist mit einem Überschuss an Bestimmung aufgeladen, der den Betrachter dazu auffordert, in die Tiefe der Dinge einzudringen.
Kennen Lernen III
Es ist selten, dass man das Werk eines zeitgenössischen Künstlers in seinen Brüchen, seiner Entwicklung, seinen ausgeführten Linien überblicken kann. Der Kunstmarkt, notwendiges Instrument für den Lebensunterhalt der Maler und der Galerie-Infrastruktur, vereinzelt die Arbeiten und verbirgt sie vor dem öffentlichen Auge. Vor allem das Frühwerk, meist wenig publiziert, manchmal verschämt verborgen, manchmal zur Legende verklärt, entzieht sich der Überprüfung. Retrospektiven sind daher notwendig, selbst wenn dies Wort hochmütig klingt bei einem (damals) noch nicht 40 jährigen Künstler, der zudem noch nicht einmal ein Dezennium „im Geschäft“ war. Die Werkschau „Ungewisse Jagden“ (Kunsthalle Marburg, 2005) zeigte einen vom Fleisch, von der Materialität der Dinge beeinflussten Maler. Einen jungen Künstler, der von der Wucht eines Francis Bacon beeindruckt war, der sich die Monumentalität des Fleisches, des menschlichen wie des tierischen, aber selbst ermalen wollte.
Auf ausgeweidete Tierkadaver und abgenommene menschliche Gliedmaßen hatte sich der Kunststudent gestürzt. Doch schwelgt er nicht in Blut- und Fleischorgien. Unbestechlichen Blickes sortiert Kalaizis bereits 1995 (Triptychon „Titel dem Künstler noch nicht bekannt“) Gegenstände nach Ähnlichkeiten in Farbe und Form und präsentiert sie nüchtern auf einem anatomischen Altar. Dabei setzt er auf den Kontrast als Gestaltungselement. Die Montage bleibt als Montage sichtbar, erst recht, wenn Kalaizis Bilder in Di- und Triptychen aufspaltet.
„Ungewisse Jagden“ stellte auch einen bildenden Künstler vor, der – auf der “Leipziger Schule“, wo sonst? – gelernt hatte, den Abbildungs- und Darstellungsverfahren zu misstrauen. Aus unterschiedlichsten Bildquellen setzen sich seine Werke zusammen. Dekorative Muster, antiquierte Schriftzüge, Elemente aus Schnittmusterbögen, Vignetten und die bereits bekannten rohen Fleischstücke überlagern sich in den 1999/2000 entstandenen Arbeiten.Sie sind Ausdruck universeller Sinnsuche. Mit feinem Strich umrissene menschliche Körper werden mit Abbildungen aus Wissenschaft, Populärwissenschaft und Kitsch konfrontiert. Kalaizis untersucht Athletenkörper, so auf die DHfK verweisend, die Leipziger Schule des Sports, die in den 70er und 80er Jahrfen Weltgeltung errang.
Ein Schlüsselwerk jener Zeit „Übungen zur Meisterschaft“. Vier unterschiedliche Bildschichten treffen aufeinander: das realistisch gehaltene Porträt einer splitternackten Mutter mit Kind, die entfärbte, fast ausgewaschene Rückenansicht eines Mannes, eine zerlaufende, aus der Hand dieses Mannes kommend scheinende schmutziggraue Farbfläche und ein Lichtstrahl, der durch die anderen Bildelemente fährt und sie –sich dabei verändernd – gleichsam verbindet. „Übungen zur Meisterschaft“ ist eine Selbstbefragung, stellt sie die lichte Mutter-Kind-Figur in Kontrast zum unablässigen, isolierten Alltag vor der Leinwand. Doch wächst die Silhouette des Malers in die Bildhälfte von Mutter und Kind hinein, ist in ihr anwesend, während der Arm mit dem Pinsel ins Atelier hineinwächst und stoisch seine notwendige Tätigkeit vollführt.
Drei Schulen von Kalaizis sind wir bislang begegnet – der Raum und Zeit aufspaltenden Narration des postmodernen Kinos, der Monumentalität des Fleisches eines Francis Bacon, der Bildschichtung eines Sigmar Polke. Genannt werden müsste noch Jusepe Ribera. Beim spanischen Barockmaler schätzt Kalaizis die dramatische Figurenkonstellation, das Ringen um einen Ausweg auch in düsterster Ausgangslage, die unmittelbare Verheißung.
Bei Kalaizis übersetzt sich die Leidenschaft des Barocks in Melancholie. Jeder ringt für sich allein, wendet den Blick nach innen, sei es der aus dem Haus geworfene Mann in „Das Heim“, seien es die fünf Figuren in „Die Stunde der unnachahmlichen Offenbarung“. In jedem ist Hoffen, in jedem ist Zagen.
Ist jetzt Kalaizis „erklärt“? Ich hoffe nicht, denn die schönste Beschäftigung ist doch, sich von den Bildern einfangen zu lassen und in sie zu dringen, jeden Tag neu, bis man als Betrachter die „Beschäftigungsgerechtigkeit“ erlangt hat.
©2006 Tom Mustroph | Aris Kalaizis
(Quelle: Monografie ‚Rubbacord’, Kerber-Verlag, 2006)
Tom Mustroph, freier Autor, lebt in Berlin und Palermo