Bilder, einer zukünftigen Geschichte
Der niederländische Museumsdirektor Dr. Harry Tupan beschreibt das erzählerische Element am Beispiel zweier Gemälde Aris Kalaizis' sowie am Exempel der Leipziger Schule
Das Werk des Leipziger Malers Aris Kalaizis kann dem magischen Realismus zugeordnet werden, einer Strömung, die der niederländische Maler Pyke Koch (1901 – 1991) folgendermaßen beschrieb: „Magisch-realistische Darstellungen sind zwar möglich, aber nicht wahrscheinlich.“ Natürlich kann in der Malerei das Unwahrscheinliche wahrscheinlich gemacht werden.Und genau das sehen wir bei Kalaizis. Seine Bilder sind aber keine Konsequenz des rein Imaginären und bieten somit kein deckungsgleiches Abbild des Traumes. Infolge dessen beginnt sein Arbeitsprozess in der genauen Beobachtung der realen Dingwelt, die ihm erst weitere Perspektiven eröffnen. Klar, dass in ihm der Gestus des Suchenden innewohnt. Jedoch kann man sagen, dass Kalaizis das Inventar der Formen und Farben unserer Welt benötigt, um sich einer tieferen, inneren und letztlich verborgenen Realität anzunähern. Man könnte diesen Schöpfungsprozess auch als die dialektische Einheit von Sein und Bewusstsein bezeichnen.
…Beobachtung der realen Dingwelt
Seine Bilder sind demnach eine sehr genaue, ja fast fotografische (aber keinesfalls fotorealistische) Wiedergabe einer sachlichen, rationalen Realität einerseits, und eines fantastischen, irrationalen Traumes andererseits. Die Darstellung seiner Figuren in ungewöhnlichen, den Betrachter verstörenden Situationen führt zu einer starken Entrückung, von der zugleich eine große Anziehungskraft und Faszination ausgeht.
Das ist zweifellos der großen technischen Meisterschaft des Künstlers geschuldet: Mit sagenhafter Technik schafft Kalaizis sehr überzeugende Gemälde, in denen Fiktion und Wirklichkeit ineinander übergehen. Schade jedoch, dass bei ihm die Zeichnung nur als Vorzeichnung für seine Gemälde vorkommt. Es liegt darin begründet, dass sich als reiner Ölmaler versteht, dem die Geheimnisse und der Zauber dieser Technik unergründlich scheinen.
Kalaizis verweist auf ein verborgenes Mysterium, das hinter der gemalten Oberfläche des Bildes liegt wie eine Art Jenseits, das seinen Ursprung natürlich auch in den Träumen des Künstlers hat, in denen sich seine Wünsche und Vorstellungen manifestieren. Obwohl seine Bilder zumeist unterschiedlich interpretiert werden, sind sie dennoch in ihrer Struktur klar und kompakt. In ihnen liegt sogar eine gewisse Strenge des Bildaufbaus. Vermutlich dient die Klarheit der Komposition, um unseren Auge einen Halt für die doch komplexeren Erzählzusammenhänge seiner Figuren zu geben.
Auch haben seine Werke einen ausgesprochen kinematografischen Charakter. Sie wirken wie ein „Still” aus einem Film, ein eingefrorener Moment, der sorgfältig komponiert und inszeniert ist. Das verwundert nicht, wenn man Kalaizis’ Arbeitsprozess kennt: Tatsächlich gehen der gemalten Szene aufwändige Aufbauten voraus, in die später die menschlichen Modelle platziert werden.
Der in der Fachwelt häufig verwendete Begriff „Neue Leipziger Schule” für die dritte Leipziger Maler-Generation, die aus der Hochschule für Grafik und Buchkunst hervorging, ist eher ein Sammelbegriff als eine tatsächliche Schule. Als Absolvent dieser Hochschule gehört Kalaizis zwar zu dieser Gruppe, aber eigentlich muss man sein Werk individuell und losgelöst aus diesem Kontext betrachten. Seinen Bildern eigen ist das für die Leipziger Maler charakteristische erzählende Element, das uns auch stark in den Werken Neo Rauchs begegnet.
Die Gemälde von Aris Kalaizis lösen Fragen aus. Wir sehen Engel in einem zeitgenössischen Setting, auch wenn von Courbet, dem berühmten französischen Realisten des 19. Jahrhunderts der bekannte Ausspruch stammt: "Wie kann ich Engel malen, wenn ich sie noch nicht gesehen habe?" So etwa in dem Werk Himmelmacher (2008), in dem ein nur mit einem String bekleideter Engel durch das zerstörte Dach herabgesunken zu sein scheint. Das sind Engel, die wir gerne sehen: attraktiv, jung, erotisch. Der schöne Körper wird zusätzlich von einem runden Spiegel mit blauem Rahmen hervorgehoben, der an einer Wand mit roter Streifentapete hängt.
Hier sehen wir Kalaizis’ kompositorische Stärke in optima forma. Der diagonale herabgestürzte Holzbalken mit Latten, die sich wie Gitterstäbe vor den Engel geschoben haben, verbindet alle Elemente der Komposition miteinander, einschließlich den Mann, der sich mit einer Hand auf den ovalen Tisch stützt. Er scheint das Wunder, das sich hinter ihm vollzieht, nicht wahrzunehmen. Wer den Künstler nach der Bedeutung fragt, erhält als Antwort nur ein Achselzucken: Kalaizis kommentiert seine Werke nicht. Seine Aufgabe ist erfüllt. Die Tür ist ein wenig geöffnet. Wir, die Betrachter, müssen nun entscheiden, was wir dahinter sehen.
Ein besonderes Werk in seinem Œuvre ist Die Stunde der Entweltlichung (2012), das durch die blaue Leuchtschrift am Tresen verbal sehr schön zusammengefasst wird, obgleich das Erscheinen von Schriftsprache doch ein wenig überrascht, bedenkt man, dass der Maler an einen Gegensatz zwischen Sprache und Bild glaubt. Was wird uns Betrachtern aber durch das Aufscheinen eines gemalten Wortes verdeutlicht? – Nichts, denn das Wort fasst lediglich zusammen, was wir sehen: Ein Wunder, eine Bar.
Wir sehen darin die Befreiung der aufsteigenden stofflichen Hülle, während der Geist – verkörpert durch den Kopf auf dem Tresen – zurückbleibt. Eine männliche Figur in schwarzem Anzug und mit dunklem Hut, der wie ein vormoderner Totengräber anmutet, hält den Geist sanft zurück. Das sich wiederholende violette Muster im Hintergrund betont die Vertikale und lenkt unseren Blick nach oben. Ist sich der Barkeeper des wundersamen Vorganges bewusst, der sich neben ihm abspielt? Wunderbar!
In dem großformatigen Bild „Das Band“ (2013) begegnen wir einem gedoppelten Engel, der vermutlich den Schauplatz soeben betreten zu haben scheint. Entweicht dem kopfüber am Boden liegenden Mann gerade der letzte Hauch seines Lebens oder wird ihm durch das Band neues Leben eingehaucht? In dieser modernen Kreuzigungsszenerie scheint alles festgefroren und festgezurrt. Dennoch wird in diesem Gemälde Bewegung suggeriert. In dieser einzigen Szene ist gleichsam Hoffnung sowie die Abgründigkeit unseres Daseins vorhanden. Handelt es sich daher um eine vergangene Geschichte oder wird hier eine in die Zukunft projizierte Geschichte vorerzählt?
Hier offenbart sich Kalaizis’ Meisterschaft. Die für ihn so charakteristische künstlerische Intelligenz, Maltechnik und Fantasie – all das kommt in diesen beiden Werken zum Ausdruck.
…geheimnisvolles Licht
Abschließend noch ein paar Worte zu einem wichtigen Aspekt in seinen Werken, nämlich dem des Lichts: In vielen seiner Bilder begegnet uns ein geheimnisvolles Licht, das – oft in der Form eines Strahlenbündels – fast übersinnlich wirkt. Mal ist es eine einfache Glühbirne an der Decke, mal sind es die Scheinwerfer eines Autos oder ein erleuchteter Globus. Immer spielen die Lichtquellen eine wichtige Rolle in den Kompositionen, sowohl inhaltlich als auch technisch.
Wunderlicht, wunderbar!
Dr. Harry Tupan, geb. 1985, studierte Kunstgeschichte an der Universität Groningen. Er ist verantwortlich für mehrere internationale Ausstellungen und Publikationen. So kuratierte er die Schauen Realismus aus Leipzig. Drei Generationen Leipziger Schule (2009) sowie Der Sowjet-Mythos. Sozialistischer Realismus 1932 – 1960 (2013). Er gilt als Spezialist für figurative Kunst und ist federführendes Mitglied des Direktoriums des Drents Museums.
©2014 Harry Tupan | Aris Kalaizis