Aris Kalaizis

Die Einmischung der Engel. Eine zweite Erzählung nach einem Kalaizis-Gemälde

Aris Kalaizis | Die Einmischung der Engel | Öl auf Leinwand | 110 x 150 cm | 2009
Aris Kalaizis | Die Einmischung der Engel | Öl auf Leinwand | 110 x 150 cm | 2009

Der in der Sch­weiz geborene und in New York lebenden Autor Chris­toph Keller entwirft mit ein­er zweiten Story zu einem weit­er­en Bild des Leipzi­ger Malers, Aris Kala­izis, "Die Ein­mis­chung der Engel" eine groteske Parallelwelt

Ein Wun­der hat noch tiefere Wurzeln, 
Etwas wie ein Irrtum, eine tief­gre­ifende Niederlage. 
‑Mur­i­el Rukey­ser, Fabel


Er brauchte das Geld, das ihm Pen­tagrass anbot, für ihn Mod­ell zu stehen. Wenn man es das nennen woll­te: schlüpf in schmutzige Jeans, ein unge­waschenes Unter­hemd, setz eine lächer­liche Per­ücke und ein über­ras­cht­es Gesicht auf. Im Res­taur­ant in Grimma, wo er als Kell­ner arbeitete, blieb die Kund­schaft aus, und immer öfter, wenn Johan zur Arbeit erschi­en, fand er die Tür zu und daran ein Geschlossen-Schild. Dies­mal hatte er blau gemacht, ohne dem Res­taur­ant-Besitzer etwas dav­on zu sagen. Let­zt­lich würde ihn Robert ohne­hin ziehen lassen, so wie es mit der Wirtschaft derzeit stand. Er hielt inne und lehnte die Schaufel an den näch­sten Baum neben dem Haufen Erde, die von der let­zten Nacht regenschwer war. Er schaute hoch. Über ihm nichts als ein ver­he­is­sungs­voller Blät­ter-Bal­dachin. Gut, dachte Pen­tagrass. Johan war zeit­ig gekom­men. Er hatte den rost­grün­en Wart­burg geb­racht, den er für sein Bild brauchte, und ihn genau dort geparkt, wo er ihn haben woll­te. Er hatte ein behelf­s­mässiges Zelt aus den Steck­en und Plachen, die ihm Pen­tagrass gegeben hatte, aufges­tellt, und er hatte gar schon zu schaufeln begonnen.Nun, da Pen­tagrass mit dem rest­lichen Ger­ät und mit Mar­ie, dem Engel-Mod­el, angekom­men war, hatte Johan die Schaufel zur Seite ges­tellt und seine Pose ein­gen­om­men. “Schau ein­fach über­ras­cht drein, Johan”, sagte Pen­tagrass, trat aus der Lich­tung, wo er Teil des Waldes war, und betrachtete die Szene durch die Linse sein­er Kam­era. Sie hat­ten aus­gemacht, die Geg­en­wart des andern nicht anzuerkennen, während die Szene für das Bild entstand. Dieser Prozess war dessen Kern. Nur so war es Maler wie Mod­el mög­lich, sich in dem Bild zu ver­lier­en. W353. Rät­sel­haft wie Zif­fern, wie Wolken, aus­sch­laggebend wie das richtige Licht, so schaute ein Teil des Num­mernschildes des Pick-ups zwis­chen Johans Bein­en her­vor. Hinter Johan der Stall, der schwangere Himmel.

Aris Kalaizis, Detail: Die Einmischung der Engel
Aris Kalaizis, Detail: Die Einmischung der Engel

Die Bäume schien­en frisch, als wären sie eben gep­flan­zt worden. Alle mög­lichen fried­lichen Ger­äusche war­en zu hören, das Ras­cheln der Blät­ter, das Pochen eines Specht­es, Flü­gel­flat­tern. Pen­tagrass’ vorheriges Bild, Das Ritu­al, hatte sein­en Ursprung auch hier gefun­den. Hier, vor Mon­aten auf Pilz­suche, war er auf den riesigen, halb aus der Erde befreit­en Wurzel­stock gestossen, der zum Kern­stück des Gemäldes geworden war. Zum Entset­zen sein­er Frau hatte er die Wurzel in sein Wohnzi­m­mer geschleppt. Wochen­lang krochen Käfer und Ameis­en auf der Suche nach einem Weg zurück in den Wald in ihr­er Wohnung her­um. Das Ritu­al zeigte Pen­tagrass von hin­ten in einem Unter­hemd (dasselbe, das Johan jet­zt trug) und Hosen­trägern, wie er den Wurzel­stock mit Hil­fe eines Seiles in der Luft hält, während ihm eine Frau dabei miss­bil­li­gend zuschaut. (Die Frau in seinem wirk­lichen Leben wusste das Bild schliess­lich zu schätzen.) Er schaute Johan intens­iv an. Wie ein Schaus­piel­er, der seine Rolle kan­nte, nicht aber den Film, in dem er spielte, so wusste Johan, was er zu tra­gen und wo er zu stehen hatte, sonst aber wusste er nichts. Er wusste nicht, was auf ihn zukam, wenn über­haupt etwas. Er wusste schon gar nicht, dass sich Pen­tagrass gezwun­gen fühlte, an den Tatort seines ver­heri­gen Gemäldes zurück­zukom­men. Johan wusste nicht, dass sich Pen­tagrass auf mys­ter­iöse Weise ver­p­f­lichtet fühlte, nach Make / Believe und dem Him­mels­mach­er ein wei­t­eres Engels­b­ild zu malen. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass er so sehr Teil des Bildes wer­den kön­nte, dass er mög­lich­er­weise nicht mehr aus ihm heraus find­en würde. Er war instru­iert worden, über­ras­cht dre­in­zuschauen, aber er hatte keine Ahnung, dass er wirk­lich über­ras­cht sein würde. Rasch trat Pen­tagrass in die Szene, legte ein­en Fed­er­kranz in das noch immer offene Loch, und zog sich wieder zurück.


Johan fühlte sich krank, er bra­ch ein. Er spürte es phys­isch. Seine Wan­gen fielen ein und wur­den bleich, das Blut ver­dickte sich, das Herz schlug immer lang­samer. War er bereits entlassen worden? Er kon­nte nicht auf die Uhr schauen und gleichzeit­ig seine Pose ein­hal­ten. Bestim­mt war es schon nach vier, das Res­taur­ant war geöffnet und seine Abwesen­heit und die des Pick-ups würde bemerkt worden sein. Er warf ein­en Seiten­blick auf Pen­tagrass. Der nickte: Das war eine Ver­let­zung der Regeln! Licht – ein Licht­gey­sir – schoss aus dem Loch. Es füll­te sich mit Fed­ern, die so weiss wie jene ein­er Gans oder eines Schwans war­en. Johan tat, was die Leute oft tun, wenn sie etwas nicht ver­stehen: Er machte sich auf die Suche nach sein­en Zigar­etten. Es war ihm egal, seine Pose aufzugeben, auch, den Schauplatz zu ver­lassen. Er fand sie auf dem Bei­fahr­ersitz. Der Wagen roch nach Alter und Miss­brauch. Wieder beim Loch, fühlte es sich falsch an zu rauchen.

Clio, die schwanger war, ver­bot das Rauchen in ihr­er Anwesen­heit. Manch­mal zün­dete Johan sich den­noch eine an. Sie war in ihr­er zehnten Woche. Es war noch Zeit für Entscheidun­gen. Sie hat­ten nicht ein­mal das Geld für sich selbst, gesch­weige denn für ein Kind. Er hatte ihr ver­sprochen, sich zusam­men zu reis­sen, das let­zte Mal nur gerade vor ein paar Stun­den, als er ver­meint­lich zur Arbeit gegan­gen war. Er hatte Clio ver­sprochen, härter zu arbeiten, häufi­ger für Trink­geld zu lächeln, trotz alle­dem auf eine Lohner­höhung zu hof­fen. Er schnippte die Zigar­ette ins Loch. Sie wurde sogleich von den Fed­ern, den Zähnen der Erde, geschluckt. Seine Wut traf das falsche Ziel. Er sehnte sich danach, im Res­taur­ant zu sein. Zu lächeln. Den Wart­burg hätte er nicht gestohlen. Clio wäre nicht schwanger, die Zigar­ette geraucht. Er würde ungeduldige Gäste bedien­en, die von Roberts über­teuer­ten Bio-Gour­met-Mahlzeiten nicht genug bekom­men kon­nten. Stattdessen war er hier, trug eines andern schmutziges Unter­hemd und diese lächer­liche Jesus-Per­ücke. Klick!, und Johans über­ras­cht­es Gesicht war einge­fan­gen. Pen­tagrass legte die Kam­era auf den Wald­boden, betrat die Lich­tung und liess lang­sam Mar­ie her­unter. Mar­ie, die Pen­tagrass’ Frau in der­en Schneidergeschäft zur Hand ging, hatte ein­en Klet­ter­gurt umgeschnürt. Darüber trug sie Fed­ern und ein leicht­es weisses Hem­d­chen. Sie war an Sei­len fest­gemacht, und die Seile war­en an zwei Bäu­men fest­gemacht. Mar­ie schaute in das Loch, aus dem das Licht strömte, und Johan blickte geban­nt auf das goldene Haar des Engels. “Jet­zt beug dein recht­es Knie, Mar­ie,” sagte Pen­tagrass. “Das andere und nicht so viel, gut, behalts genau da. Und streck den linken Arm aus, zeig mit zwei Fin­gern auf das Loch. Schau Johan nicht an.”


Pen­tagrass hatte noch nie mit Mar­ie gearbeitet, doch jet­zt, da sie solide vom Him­mel hing, hatte er eine Vorahnung, wie vol­len­det alles sein würde. Instinkt­iv öffnete Johan seine Hände dem Engel ent­ge­gen. “Soll ich …”, er wusste, wie hil­flos es klang, während er es sagte, “… dein­en Sturz auffan­gen?” “Das ist nicht nötig”, sagte der Engel mit dem schön­sten Engelslächeln. “Aber danke trotzdem, Johan.” Sie hielt in der Luft an. Ihre Flü­gel bewegten sich nicht. Ihr Haar war in dem Licht, das aus dem Loch kam, ein Rät­sel. Ihre Schul­tern war­en nackt, ebenso ihre Arme und Beine. Da sie kop­füber daherge­flo­gen kam, war ihr Hem­d­chen her­unter­ger­utscht und hatte ihr Geschlecht ent­blösst. Sie ver­deckte es mit ihr­er recht­en Hand. Johans Sor­gen wuch­sen. Er woll­te nicht, dass die sehnsüchtige Nack­theit des Engels zwis­chen ihn und Clio kam. Er spürte das verz­weifelte Ver­lan­gen, Clio an sich zu drück­en, sein Ohr an ihren Bauch zu legen und zu horchen. Hil­flos verkün­dete er: “Ich will das Kind. Ich will es wirk­lich und … hof­fent­lich ist es nicht zu spät. Hof­fent­lich ist sie noch nicht zum Arzt gegan­gen. Hof­fent­lich liebt sie mich noch. Und irgend­wie, Clio”, sagte er, als stünde sie vor ihm, “irgend­wie krie­gen wir das hin. Wir schaf­fen das, Clio, du und ich.” Es war plötz­lich so dunkel geworden. Ein­en Augen­blick lang war da nicht ein­mal mehr ein Him­mel jen­seits der Bäume. Johan wusste, dass der Engel nicht Clio war. Doch war er überzeugt, Clio könne ihn durch den Engel hören. Der Engel sagte nichts. Das war nicht nötig. Dann kamen die Farben stürmisch zurück, es war­en die Farben des ster­benden Him­mels, es war die Abend­däm­mer­ung, die das dun­stige Blau schlürfte, das einst so selbst­sichere Him­mels­blau. Johan star­rte. Wel­treiche stürzten ein, doch Kinder wur­den geboren. Schliess­lich sagte er, “Und nun keine Aus­reden mehr. Ich werde mit Robert reden. Viel­leicht ist es noch nicht zu spät. Ich reiss mich zusam­men, wirk­lich! Ich werde auch zu rauchen aufhören.”Dann war der Engel entschwun­den, und der Wald stell­te sich auf eine Dos­is himml­is­chen Sch­wei­gens ein.


Wie alle grossen Gemälde, so wurde auch sein neues Bild zur Illu­sion ein­er Illu­sion: die Real­ität und der­en Kehr­seite. Ein Gemälde, das mehr als ein Gemälde ist, ist eine Vis­ion. Es ist eine Alleg­or­ie der Malerei. Das ist viel­leicht nie bess­er als in Johan Ver­meers Bild dieses Namens exem­pli­fziert worden: dar­in ein Mod­el, das als Clio, die Geschichts­muse posiert (weshalb der Geschichte in ein­er Alleg­or­ie der Malerei brauchte Pen­tagrass so viele Jahrhun­dete später nicht zu küm­mern), und Ver­meer sel­ber als der Maler von hin­ten. Es ist ein Gemälde, das jedes sein­er Ele­mente in den genau richti­gen Zusam­men­hang stellt. Nichts ist dem Zufall über­lassen. Nichts anderes wird mehr mög­lich. Das gilt auch für das Gemälde Das Ritu­al: Schau nur, wo sich der rote Vorhang befin­d­et und wie er fällt. Wie der Wurzel­stock schwebt. Wie es die Frau miss­bil­ligt. Schau dir die Seile an. Wie sie hän­gen. Schau den Maler an, wie er das Seil hält, welches das Gemälde zusam­men­hält. Schau das mys­ter­iöse Zeichen an, wie grün es leuchtet, wie wir es nicht wirk­lich ver­stehen sol­len, so wie wir ein­en Licht­gey­sir, der plötz­lich aus der ver­wun­deten Erde schiesst, nicht wirk­lich ver­stehen sollen.


Angespan­nt star­rte Pen­tagrass auf sein neues Werk. Sechs Wochen lange hatte er an Die Ein­mis­chung der Engel gearbeitet, und jet­zt, da es vol­len­det war, lehnte es an der Wand seines nack­ten Ateliers. Der ein­zige Trost war nun das lang­same Trocknen der Farbe.Er trat ein­en Sch­ritt zurück und dachte an Johan, der in der Zwis­chen­zeit seine Fre­und­in und sein­en Job ver­loren hatte. Es über­wältigte ihn, wie vol­len­det die Kunst war und wie unzuläng­lich das Leben. Er schaute auf die Hand des Engels, mit der dieser sein Geschlecht ver­deckte. Doch kon­nte er an nichts anderes als die Schicht grün­er Grundi­er­farbe und die Lein­wand dar­unter denken.“Wunder haben noch tiefere Wurzeln”, sagte der Engel. Johans Kind – ein Mäd­chen – wuchs in Clio her­an. Es würde ihm in diesem schwi­eri­gen Leben gut erge­hen. Rasch dre­hte Pen­tagrass das Bild auf den Kopf und plötz­lich machte alles Sinn.

©2010 Chris­toph Keller | Aris Kalaizis

Christoph Keller in seiner Wohnung (NYC, 2007)
Christoph Keller in seiner Wohnung (NYC, 2007)

Chris­toph Keller, geboren 1963 in St. Gal­len, ist der Autor mehr­er­er Romane, Essays und Theat­er­stücke, zulet­zt die Erzählung “A Few Famil­i­ar Things” (2003), der auto­bi­o­grafis­che Roman “Der beste Tän­zer” (2003), das Stück “Die Stif­tung” (2004) sow­ie die Fotoauss­tel­lung “Eye Catch­er” (New York, 2006). Im Früh­jahr 2008 erschi­en “Der Stand der let­zten Dinge”, der dritte Roman, den er zusam­men mit Hein­rich Kuhn als Keller+Kuhn ver­öf­fent­licht hat. Er lebt mit sein­er Frau, der Lyriker­in Jan Heller Levi, in St. Gal­len und New York. “Die Ein­mis­chung der Engel” (Das Ritu­al) ist seine zweite Erzählung nach einem Bild von Aris Kalaizis.

© Aris Kalaizis 2024