Die Einmischung der Engel. Eine zweite Erzählung nach einem Kalaizis-Gemälde
Der in der Schweiz geborene und in New York lebenden Autor Christoph Keller entwirft mit einer zweiten Story zu einem weiteren Bild des Leipziger Malers, Aris Kalaizis, "Die Einmischung der Engel" eine groteske Parallelwelt
Ein Wunder hat noch tiefere Wurzeln,
Etwas wie ein Irrtum, eine tiefgreifende Niederlage.
‑Muriel Rukeyser, Fabel
Er brauchte das Geld, das ihm Pentagrass anbot, für ihn Modell zu stehen. Wenn man es das nennen wollte: schlüpf in schmutzige Jeans, ein ungewaschenes Unterhemd, setz eine lächerliche Perücke und ein überraschtes Gesicht auf. Im Restaurant in Grimma, wo er als Kellner arbeitete, blieb die Kundschaft aus, und immer öfter, wenn Johan zur Arbeit erschien, fand er die Tür zu und daran ein Geschlossen-Schild. Diesmal hatte er blau gemacht, ohne dem Restaurant-Besitzer etwas davon zu sagen. Letztlich würde ihn Robert ohnehin ziehen lassen, so wie es mit der Wirtschaft derzeit stand. Er hielt inne und lehnte die Schaufel an den nächsten Baum neben dem Haufen Erde, die von der letzten Nacht regenschwer war. Er schaute hoch. Über ihm nichts als ein verheissungsvoller Blätter-Baldachin. Gut, dachte Pentagrass. Johan war zeitig gekommen. Er hatte den rostgrünen Wartburg gebracht, den er für sein Bild brauchte, und ihn genau dort geparkt, wo er ihn haben wollte. Er hatte ein behelfsmässiges Zelt aus den Stecken und Plachen, die ihm Pentagrass gegeben hatte, aufgestellt, und er hatte gar schon zu schaufeln begonnen.Nun, da Pentagrass mit dem restlichen Gerät und mit Marie, dem Engel-Model, angekommen war, hatte Johan die Schaufel zur Seite gestellt und seine Pose eingenommen. “Schau einfach überrascht drein, Johan”, sagte Pentagrass, trat aus der Lichtung, wo er Teil des Waldes war, und betrachtete die Szene durch die Linse seiner Kamera. Sie hatten ausgemacht, die Gegenwart des andern nicht anzuerkennen, während die Szene für das Bild entstand. Dieser Prozess war dessen Kern. Nur so war es Maler wie Model möglich, sich in dem Bild zu verlieren. W353. Rätselhaft wie Ziffern, wie Wolken, ausschlaggebend wie das richtige Licht, so schaute ein Teil des Nummernschildes des Pick-ups zwischen Johans Beinen hervor. Hinter Johan der Stall, der schwangere Himmel.
Die Bäume schienen frisch, als wären sie eben gepflanzt worden. Alle möglichen friedlichen Geräusche waren zu hören, das Rascheln der Blätter, das Pochen eines Spechtes, Flügelflattern. Pentagrass’ vorheriges Bild, Das Ritual, hatte seinen Ursprung auch hier gefunden. Hier, vor Monaten auf Pilzsuche, war er auf den riesigen, halb aus der Erde befreiten Wurzelstock gestossen, der zum Kernstück des Gemäldes geworden war. Zum Entsetzen seiner Frau hatte er die Wurzel in sein Wohnzimmer geschleppt. Wochenlang krochen Käfer und Ameisen auf der Suche nach einem Weg zurück in den Wald in ihrer Wohnung herum. Das Ritual zeigte Pentagrass von hinten in einem Unterhemd (dasselbe, das Johan jetzt trug) und Hosenträgern, wie er den Wurzelstock mit Hilfe eines Seiles in der Luft hält, während ihm eine Frau dabei missbilligend zuschaut. (Die Frau in seinem wirklichen Leben wusste das Bild schliesslich zu schätzen.) Er schaute Johan intensiv an. Wie ein Schauspieler, der seine Rolle kannte, nicht aber den Film, in dem er spielte, so wusste Johan, was er zu tragen und wo er zu stehen hatte, sonst aber wusste er nichts. Er wusste nicht, was auf ihn zukam, wenn überhaupt etwas. Er wusste schon gar nicht, dass sich Pentagrass gezwungen fühlte, an den Tatort seines verherigen Gemäldes zurückzukommen. Johan wusste nicht, dass sich Pentagrass auf mysteriöse Weise verpflichtet fühlte, nach Make / Believe und dem Himmelsmacher ein weiteres Engelsbild zu malen. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass er so sehr Teil des Bildes werden könnte, dass er möglicherweise nicht mehr aus ihm heraus finden würde. Er war instruiert worden, überrascht dreinzuschauen, aber er hatte keine Ahnung, dass er wirklich überrascht sein würde. Rasch trat Pentagrass in die Szene, legte einen Federkranz in das noch immer offene Loch, und zog sich wieder zurück.
Johan fühlte sich krank, er brach ein. Er spürte es physisch. Seine Wangen fielen ein und wurden bleich, das Blut verdickte sich, das Herz schlug immer langsamer. War er bereits entlassen worden? Er konnte nicht auf die Uhr schauen und gleichzeitig seine Pose einhalten. Bestimmt war es schon nach vier, das Restaurant war geöffnet und seine Abwesenheit und die des Pick-ups würde bemerkt worden sein. Er warf einen Seitenblick auf Pentagrass. Der nickte: Das war eine Verletzung der Regeln! Licht – ein Lichtgeysir – schoss aus dem Loch. Es füllte sich mit Federn, die so weiss wie jene einer Gans oder eines Schwans waren. Johan tat, was die Leute oft tun, wenn sie etwas nicht verstehen: Er machte sich auf die Suche nach seinen Zigaretten. Es war ihm egal, seine Pose aufzugeben, auch, den Schauplatz zu verlassen. Er fand sie auf dem Beifahrersitz. Der Wagen roch nach Alter und Missbrauch. Wieder beim Loch, fühlte es sich falsch an zu rauchen.
Clio, die schwanger war, verbot das Rauchen in ihrer Anwesenheit. Manchmal zündete Johan sich dennoch eine an. Sie war in ihrer zehnten Woche. Es war noch Zeit für Entscheidungen. Sie hatten nicht einmal das Geld für sich selbst, geschweige denn für ein Kind. Er hatte ihr versprochen, sich zusammen zu reissen, das letzte Mal nur gerade vor ein paar Stunden, als er vermeintlich zur Arbeit gegangen war. Er hatte Clio versprochen, härter zu arbeiten, häufiger für Trinkgeld zu lächeln, trotz alledem auf eine Lohnerhöhung zu hoffen. Er schnippte die Zigarette ins Loch. Sie wurde sogleich von den Federn, den Zähnen der Erde, geschluckt. Seine Wut traf das falsche Ziel. Er sehnte sich danach, im Restaurant zu sein. Zu lächeln. Den Wartburg hätte er nicht gestohlen. Clio wäre nicht schwanger, die Zigarette geraucht. Er würde ungeduldige Gäste bedienen, die von Roberts überteuerten Bio-Gourmet-Mahlzeiten nicht genug bekommen konnten. Stattdessen war er hier, trug eines andern schmutziges Unterhemd und diese lächerliche Jesus-Perücke. Klick!, und Johans überraschtes Gesicht war eingefangen. Pentagrass legte die Kamera auf den Waldboden, betrat die Lichtung und liess langsam Marie herunter. Marie, die Pentagrass’ Frau in deren Schneidergeschäft zur Hand ging, hatte einen Klettergurt umgeschnürt. Darüber trug sie Federn und ein leichtes weisses Hemdchen. Sie war an Seilen festgemacht, und die Seile waren an zwei Bäumen festgemacht. Marie schaute in das Loch, aus dem das Licht strömte, und Johan blickte gebannt auf das goldene Haar des Engels. “Jetzt beug dein rechtes Knie, Marie,” sagte Pentagrass. “Das andere und nicht so viel, gut, behalts genau da. Und streck den linken Arm aus, zeig mit zwei Fingern auf das Loch. Schau Johan nicht an.”
Pentagrass hatte noch nie mit Marie gearbeitet, doch jetzt, da sie solide vom Himmel hing, hatte er eine Vorahnung, wie vollendet alles sein würde. Instinktiv öffnete Johan seine Hände dem Engel entgegen. “Soll ich …”, er wusste, wie hilflos es klang, während er es sagte, “… deinen Sturz auffangen?” “Das ist nicht nötig”, sagte der Engel mit dem schönsten Engelslächeln. “Aber danke trotzdem, Johan.” Sie hielt in der Luft an. Ihre Flügel bewegten sich nicht. Ihr Haar war in dem Licht, das aus dem Loch kam, ein Rätsel. Ihre Schultern waren nackt, ebenso ihre Arme und Beine. Da sie kopfüber dahergeflogen kam, war ihr Hemdchen heruntergerutscht und hatte ihr Geschlecht entblösst. Sie verdeckte es mit ihrer rechten Hand. Johans Sorgen wuchsen. Er wollte nicht, dass die sehnsüchtige Nacktheit des Engels zwischen ihn und Clio kam. Er spürte das verzweifelte Verlangen, Clio an sich zu drücken, sein Ohr an ihren Bauch zu legen und zu horchen. Hilflos verkündete er: “Ich will das Kind. Ich will es wirklich und … hoffentlich ist es nicht zu spät. Hoffentlich ist sie noch nicht zum Arzt gegangen. Hoffentlich liebt sie mich noch. Und irgendwie, Clio”, sagte er, als stünde sie vor ihm, “irgendwie kriegen wir das hin. Wir schaffen das, Clio, du und ich.” Es war plötzlich so dunkel geworden. Einen Augenblick lang war da nicht einmal mehr ein Himmel jenseits der Bäume. Johan wusste, dass der Engel nicht Clio war. Doch war er überzeugt, Clio könne ihn durch den Engel hören. Der Engel sagte nichts. Das war nicht nötig. Dann kamen die Farben stürmisch zurück, es waren die Farben des sterbenden Himmels, es war die Abenddämmerung, die das dunstige Blau schlürfte, das einst so selbstsichere Himmelsblau. Johan starrte. Weltreiche stürzten ein, doch Kinder wurden geboren. Schliesslich sagte er, “Und nun keine Ausreden mehr. Ich werde mit Robert reden. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Ich reiss mich zusammen, wirklich! Ich werde auch zu rauchen aufhören.”Dann war der Engel entschwunden, und der Wald stellte sich auf eine Dosis himmlischen Schweigens ein.
Wie alle grossen Gemälde, so wurde auch sein neues Bild zur Illusion einer Illusion: die Realität und deren Kehrseite. Ein Gemälde, das mehr als ein Gemälde ist, ist eine Vision. Es ist eine Allegorie der Malerei. Das ist vielleicht nie besser als in Johan Vermeers Bild dieses Namens exemplifziert worden: darin ein Model, das als Clio, die Geschichtsmuse posiert (weshalb der Geschichte in einer Allegorie der Malerei brauchte Pentagrass so viele Jahrhundete später nicht zu kümmern), und Vermeer selber als der Maler von hinten. Es ist ein Gemälde, das jedes seiner Elemente in den genau richtigen Zusammenhang stellt. Nichts ist dem Zufall überlassen. Nichts anderes wird mehr möglich. Das gilt auch für das Gemälde Das Ritual: Schau nur, wo sich der rote Vorhang befindet und wie er fällt. Wie der Wurzelstock schwebt. Wie es die Frau missbilligt. Schau dir die Seile an. Wie sie hängen. Schau den Maler an, wie er das Seil hält, welches das Gemälde zusammenhält. Schau das mysteriöse Zeichen an, wie grün es leuchtet, wie wir es nicht wirklich verstehen sollen, so wie wir einen Lichtgeysir, der plötzlich aus der verwundeten Erde schiesst, nicht wirklich verstehen sollen.
Angespannt starrte Pentagrass auf sein neues Werk. Sechs Wochen lange hatte er an Die Einmischung der Engel gearbeitet, und jetzt, da es vollendet war, lehnte es an der Wand seines nackten Ateliers. Der einzige Trost war nun das langsame Trocknen der Farbe.Er trat einen Schritt zurück und dachte an Johan, der in der Zwischenzeit seine Freundin und seinen Job verloren hatte. Es überwältigte ihn, wie vollendet die Kunst war und wie unzulänglich das Leben. Er schaute auf die Hand des Engels, mit der dieser sein Geschlecht verdeckte. Doch konnte er an nichts anderes als die Schicht grüner Grundierfarbe und die Leinwand darunter denken.“Wunder haben noch tiefere Wurzeln”, sagte der Engel. Johans Kind – ein Mädchen – wuchs in Clio heran. Es würde ihm in diesem schwierigen Leben gut ergehen. Rasch drehte Pentagrass das Bild auf den Kopf und plötzlich machte alles Sinn.
©2010 Christoph Keller | Aris Kalaizis
Christoph Keller, geboren 1963 in St. Gallen, ist der Autor mehrerer Romane, Essays und Theaterstücke, zuletzt die Erzählung “A Few Familiar Things” (2003), der autobiografische Roman “Der beste Tänzer” (2003), das Stück “Die Stiftung” (2004) sowie die Fotoausstellung “Eye Catcher” (New York, 2006). Im Frühjahr 2008 erschien “Der Stand der letzten Dinge”, der dritte Roman, den er zusammen mit Heinrich Kuhn als Keller+Kuhn veröffentlicht hat. Er lebt mit seiner Frau, der Lyrikerin Jan Heller Levi, in St. Gallen und New York. “Die Einmischung der Engel” (Das Ritual) ist seine zweite Erzählung nach einem Bild von Aris Kalaizis.