Aris Kalaizis

Herausforderungen eines neuen Blickes

Dr. phil. Tom Huhn mit Lehramt für Ästhet­ik und Philo­soph­ie an der School of Visu­al Arts (NYC) führt uns im Hin­blick auf die Malerei des Neue Leipzi­ger Schule Malers Aris Kalaizis' in seinem Essay an die Bruch­s­telle zwis­chen Foto­grafie und Malerei

Aris Kalaizis, Detail: Twins (2008)
Aris Kalaizis, Detail: Twins (2008)

Die jüng­sten Arbeiten des Leipzi­ger Malers Aris Kala­izis kon­fron­tier­en uns mit einem zen­t­ralen, unver­meid­lichen Phäno­men unser­er visuel­len Ori­entier­ung: der Irrit­a­tion, die bei dem Ver­such entsteht, Dinge und Situ­ation­en anders als unter ein­er foto­grafis­chen Seh­weise zu betracht­en. Diese Annahme ver­stärkt sich bei intens­iver Betrach­tung der Bilder als durchgängiges Motiv in Kalaizis' Werken, sowohl in der The­m­en­wahl als auch der künst­lerischen Aus­führung, als ver­wiesen beide Ele­mente auf die Foto­grafie als das Medi­um, welches die Welt aus­schließ­lich auf sicht­bare Inform­a­tion reduziert und dam­it, infolge der Allge­gen­wärtigkeit der Foto­grafie, Erfahrung nur in dieser Dimen­sion zulässt.


Weshalb aber soll­te irgend­je­mand, in diesem Fall Kala­izis in sein­en Bildern, gegen die Foto­grafie Protest erheben, wor­in besteht ihr ver­meint­lich Gefähr­liches? Können wir sie nicht sch­licht ignor­i­er­en und ganz prag­mat­isch die Kom­pon­en­ten, die uns frucht­bar erschein­en, nutzen? Die Ant­wort nim­mt Bezug auf eine Grundvoraus­set­zung der Foto­grafie und der daraus res­ulti­er­enden, ver­fälschenden und täuschenden Schlussfol­ger­ung: weil Foto­grafi­en die Welt so wiedergeben, als sei sie wider­spruchs­frei und geord­net, muss diese Welt, die ja schließ­lich das Aus­gangs­ma­ter­i­al für jede Ablich­tung liefert, ebenso homo­gen und struk­tur­iert sein.


Fotos unter­laufen somit die These, dass alles, was in ihnen zu sehen ist, zwangsläufig etwas Produziertes, Kon­stru­iertes, oder anders gesagt, ein Bild ist. Das foto­grafis­che „Bild“ ist eine Art Wider­spruch in sich, ein Oxy­mor­on, da die Foto­grafie von vornherein die arti­fiz­i­elle Natur des Licht­b­ildes leugnet. Der Vor­wurf besteht mith­in nicht dar­in, dass der Foto­grafie die Hand des Malers, Zeich­ners oder Kup­fer­stech­ers fehlt oder dass der Fotoap­par­at diese wie auch immer erset­zen will (nicht ein­mal, dass man sich am Aus­se­hen des Bildes stört); der Ein­wand ist viel­mehr, dass genau diese Abwesen­heit zum Fun­da­ment der Foto­grafie für die Wirkun­gen ihr­er ver­meint­lichen Bildes wird.


Streng gen­om­men ist das, was die Foto­grafie bietet, kein Bild, son­dern die Anhäu­fung bil­darti­ger Kom­pon­en­ten, die in ihr­er Ges­am­theit erst die Illu­sion eines Bildes erschaf­fen. Das ist, was Roland Barthes mit sein­er ber­üh­mt geworden­en Begriff­sprä­gung als “punctum” ein­er jeden Foto­grafie bezeich­nete: die Wunde (Barthes spricht von einem klein­en Schnitt oder Loch; Anm. d. Übers.), sich selbst der Chance beraubt zu haben, ein echt­es Bild zu sein. Unbeschadet dessen besteht aber gerade das Fes­selnde an den meisten Foto­grafi­en in dieser bau­chred­nerischen Illu­sion. Wie die Puppe auf dem Schoß des Realen, schein­en die Fotos zu sprechen, sog­ar wie Bilder, aber der Ursprung dessen, der sie für uns so wirk­lich­keit­s­nah erschein­en lässt, liegt ander­swo, ent­fernt und ver­gan­gen. Aus diesem Grund bein­hal­ten Foto­grafi­en gleichzeit­ig Unheim­liches, aber eben auch fast immer Banales.


Kala­izis’ Gemälde arbeiten intens­iv mit und gegen beide Seiten des foto­grafis­chen Bildes: das Unheim­liche, das so überaus bedeut­sam anmutet, und das Banale, in dem die Bedeu­tung so offensicht­lich ver­flacht. Fast jedes der aktuel­len Bilder kann als Beweis­stück dafür dien­en, so auch exem­plar­isch Pen­tagrass. Die wäch­sernen Schutzan­züge der drei Fig­uren sind eine Anspielung auf das Schick­sal des Fleisches unter dem Régime der Kam­era, wobei Fleisch die Ver­heißung für Zähigkeit, Glanz und stetige Geschmei­digkeit übern­im­mt (hat Fleisch jemals all das ver­sprechen können in einem Foto).
Die wäch­serne Ober­fläche jedoch bietet uns zwei mög­liche Inter­pret­a­tion­en: ein­mal in Rich­tung auf die vorgeb­lich kon­ser­vierte Frische des in Wachs gehüll­ten Frucht­fleisches, zum ander­en auf die wäch­sernen Haut­flächen mensch­lich­er Leichen. Die Mater­i­al­ität der Kata­strophen­an­züge erlaubt es Kala­izis die sonst eher ver­haltene Darstel­lung wachs­bleich­er Haut in vielen sein­er ander­en Bilder – z.B. in Nike und Psemata – weit plas­tischer wiederzugeben. Im Vorder­grund von Pen­tagrass, dort wo sich die Per­spekt­ive des Bildes entwick­elt, sind die Kreideum­risse eines Mor­dop­fers zu sehen. Bemerkenswerter­weise set­zt eine der Schutzan­zug tra­genden Per­son­en ein­en Fuß auf den Kopf des Umrisses, als würde er eine Mis­sach­tung der gezeich­neten Fig­ur des Opfers oder gar eine Kom­plizenschaft bei der­en Ver­nich­tung demon­stri­er­en wollen. Der von links ins Bild kom­mende Sch­lauch umkre­ist die drei Per­son­en wie die Sch­lange der Laokoon-Gruppe und tritt ins Bild dort, wo er gleich­sam den Kreideum­riss enthaup­tet. Der Sch­lauch fungiert darüber hinaus als Erzählung über gegen­ständ­liche Malerei und Foto­grafie, indem die Fig­uren abwech­selnd mit und gegen ihn käm­p­fen. Der Sch­lauch mag auch die Dauer­haftigkeit der Tra­di­tion­en gezeich­neter und gemal­ter Fig­uren aufzei­gen – kein Wun­der, dass der Sch­lauch quasi foto­grafisch behan­delt wer­den muss als sei er selbst giftig. Mög­lich auch dass der Sch­lauch den Gegen­ent­wurf zu dieser Tra­di­tion in sich trägt. Oder wird er, wenn auch wider­strebend, in die neue Tra­di­tion, der der Foto­grafie gezer­rt? Nim­mt man die Kreideum­risse des Opfers, auch ohne die Leiche selbst zu sehen, die nicht erken­nbare Ver­an­las­sung für den Ein­satz der Kata­strophen­an­züge, das leichen­artige Aus­se­hen der Schutzkleidung, die Anspielung auf die Laokoon-Gruppe usw. gewin­nt man zusam­men­fassend den Eindruck, dass hier das Leblose des foto­grafis­chen Bildes präzise gezeigt, ja überzeich­net wurde. Sofort drängt sich jedoch die Frage auf, welches Leben, welche Art von Lebendigkeit, mehr noch, welch­er vitale Antrieb diesenTodesreigen so aus­drucksstark wer­den lässt. Oder, um es psy­cho­ana­lyt­isch aus­zudrück­en, wie müssen wir uns diesen unbedingten Lebens­drang vor­stel­len, der sich so kom­promisslos gegen den im Bild vielfältig lauernden Tod stellt.

Ein­en ander­en Ansatz in der Begegnung mit der foto­grafis­chen Seh­weise find­en wir anhand der Leer­stelle oder des Risses, der jedes Bild von Kala­izis zu struk­tur­i­er­en scheint. Eine allen gemein­same Leer­stelle ist der Riss im Erzähl­faden eines jeden Gemäldes, gähn­ende Leere an beiden Seiten der abge­bil­de­ten Ereign­isse: in Pen­tagrass geleitet der abge­bil­dete Moment zu einem äußerst unvorhersag­bar­en und vor allem nicht vorherse­hbar­en Ort, jedoch par­al­lel dazu auch, dass die Momen­tauf­nahme irgend­wo im Unerklär­lichen und Unvor­stell­bar­en ihren Ursprung hat. Es ist dabei nicht so, dass das Bild ein­en Bruch im Fort­gang der Erzählung erzeugt, son­dern viel­mehr, dass das Bild die Illu­sion ein­er Geschichte erzeugt, ohne jedoch dafür unabd­ing­bar­en Kom­pos­i­tionsele­mente zur Ver­fü­gung zu stel­len. Man kann das Res­ultat fol­gerichtig am ehesten als “erzählung­sähn­lich” charak­ter­is­ier­en. Jedes Gemälde bedi­ent sich dieses “als ob”-Phänomens, jedes kön­nte durchaus erzählerisch funk­tionier­en, doch selt­samer­weise ohne die Ele­mente, die geeignet wären, die Nar­ra­tion zu einem bestim­mten Ende zusam­men­zuführen. Mit dieser Tech­nik par­od­ier­en Kala­izis’ Bilder, weit radikaler als es ein ein­zel­nes Foto je kön­nte, die Überzeu­gung von der Wahrhaftigkeit ein­er Geschichte, die jedem foto­grafis­chen Bild einges­chrieben zu sein scheint.

Bahren, so der Titel eines weit­er­en Bildes, bietet eben­falls ein Beis­piel für diese sphinxarti­gen Rät­sel im nar­rat­iven Prozess: was oder wer kön­nte die halb­n­ackte Frau ver­an­lasst haben, kni­et­ief in einem von Auto­schein­wer­fern illu­min­ier­ten Teich zu stehen, und was kön­nte als näch­stes passier­en? Man kann die erzählerische Diskon­ti­unuität in jedem von Kala­izis’ jüng­sten Bildern jedoch genauso überzeu­gend daran fest­machen, dass man keine Chance erhält, festzus­tel­len, ob das sich auf­drän­gende Ereignis gerade ges­chehen ist oder schon der Ver­gan­gen­heit ange­hört. Die Traurigkeit, die mel­an­chol­ische Qual­ität dieser Bilder entsteht mit der Einsicht in die Unmög­lich­keit ein­er befriedi­genden Auflösung der Erzählhandlung.

Deaf­con No. 1 (2006) wirft Licht auf die foto­grafis­che Abwesen­heit erzählerischer Inhalte inmit­ten der vollkom­men­en Gewis­sheit, genau diese vorzufind­en: Eine Per­son, ein Selb­st­por­trait, beleuchtet eine Wand, die vollkom­men frei jed­weden Sinnge­haltes ist. Die Per­son beugt sich in der Erwar­tung zur Wand, irgen­det­was Sig­ni­fik­antes zu find­en, das die Gewis­sheit unter­mauern kön­nte. Allerd­ings ver­mit­teln die drei Türen des Flures mehr, dass der forschende Blick der Fig­ur eher ein­en Weg durch die Wand find­en wird, denn auf bedeu­tungs­volle Hin­weise zu stoßen. Eine sol­ch (nicht­fo­to­grafis­che!) Andeu­tung würde uns jedoch reich­lich ver­wir­rt zurück­lassen und zwar ein­fach dadurch, dass sie unser Forts­chreit­en durch die angedeutete Trans­par­enz der Mauer hindurch beenden würde. In Die Ver­bün­deten hält eine Fig­ur, eben­falls ein Selb­st­por­trait, wie­der­um eine Lampe, in diesem Fall aber schwen­kt der Maler den Lichtkegel direkt in sein Gesicht. Der unmit­tel­bare Blick in die Lichtquelle lässt ver­muten, dass das Licht hier selbst Gegen­stand der Befra­gung ist – mög­lich­er­weise zu sein­er Kom­plizenschaft mit der Foto­grafie – und nicht als selb­stver­ständ­liches Ele­ment wahr­gen­om­men oder als Mit­tel ben­utzt wird, even­tuell existi­er­ende Bedeu­tung ans Licht zu befördern. Es sieht so aus, als bein­halte das Licht selbst das Geheim­nis sein­er Wirkung­skraft, Bedeu­tung zu erhellen und hervorzubringen.

Ein Win­ter­tag in Laibach par­od­iert die Suche nach dem Inhalt eines Bildes. Diese Arbeit wird noch aus­drück­lich­er in der Demon­stra­tion des dümm­lichen Unsinns, anzun­eh­men, dass ein Bild Bedeu­tung hat und dass es nur dazu dient, dass wir es entschlüs­seln. Ein Win­ter­tag in Laibach ist ein Traum­bild: alles fin­d­et in ein­er trostlosen Win­ter­land­schaft statt und zeigt die Kind­heit­ser­in­ner­ung an eine hölzerne Puppe und ihr­er Bedeut­samkeit, während gleichzeit­ig die Nack­theit des Träu­menden als Zeichen für den fortwährenden, uner­giebi­gen Glauben an eine Erlösung durch Sinn bloßges­tellt wird. Insofern ist es nahezu ein per­fektes Traum­bild, drückt es doch gleichzeit­ig die Sehn­sucht des Traumes (und dessen prim­it­iven Ursprung) aus als auch das gleichzeit­ige Unwohl­sein (die nack­ten Füße im Schnee) mit diesem Verlangen.

In dem Bild Am Mor­gen Danach wird die Beleuch­tung wieder als äußerst ver­wir­rendes Mit­tel ben­utzt. (Wäre es über­trieben zu behaupten, dass das Auftauchen von Licht in Deaf­con No. 1 und Am Mor­gen Danach als eine Anspielung auf die zen­t­rale Rolle des Lichts und der Beleuch­tung im foto­grafis­chen Prozess fungiert?) Der darges­tell­te Mann schaut hier gleichzeit­ig auf seine Hände und auf das Licht, das von diesen reflektiert wird. Die Quelle des Licht­es– kaum zufäl­lig, dass es entlang ein­er Wand her­unter­fällt, an dem eine Schwar­z­weiß-Foto­grafie befest­igt ist – bleibt uner­heb­lich, wird nicht weit­er ver­fol­gt, zen­t­raler ist, dass der Mann mit der Erwar­tung auf seine Hände schaut, als müssten sie das Licht fassen und fol­gerichtig enthül­len, was das Eigent­liche des Licht­es selbst sein kön­nte. Aber Licht ein­z­u­fan­gen, es foto­grafisch zu fix­ier­en, kann nur durch das Auf­be­wahren ein­er toten Ablich­tung des Lichts funk­tionier­en, nicht aber eine dynamis­che Fort­führung dessen gewähren. Was den Mann irrit­iert, ist die Sub­stan­zlosigkeit des Lichts. Das Bild impliz­iert, dass Licht nicht existiert, es sei denn, es wird irgend­wie reflektiert oder umgelen­kt. Die Frau, in schwarz gekleidet, mit Stiefeln, Hand­schuhen und einem Kopftuch, hinter dem Mann stehend, bil­det als Körp­er und durch Umlen­kung den Schat­ten, der dem Licht Gehalt und Fülle ver­lei­ht. Fast gän­z­lich in schwar­ze Kleidung einge­hüllt, wird sie eine Chif­fre für die Bedin­gung, dass Licht ver­deckt sein muss, um seine Effekte her­vorzubrin­g­en. Sie wird dam­it zur Muse: zur Muse der Malerei, ver­mute ich. Sie selbst sieht nicht, ihre Augen sind ver­schlossen, ihre schat­ten­hafte Präsenz aber ver­lei­ht dem beleuchteten Raum erst Inhalt und Struk­tur. Das ledig­lich mit weißer Unter­wäsche bekleidete Kind offen­bart mit sein­er Umk­lam­mer­ung ebenso die Umarmung der früher­en Unschuld des noch nicht durch foto­grafis­che Prozesse befleck­ten Lichts.


Weit­ere Nach­weise für die Ver­breit­ung der struk­turgebenden Leer­stel­len fin­d­et man im Ver­dopplung­sef­fekt, der in so vielen von Kala­izis’ Bildern erscheint. Man erin­nere sich erneut an die Schat­ten, dieses Mal jedoch nicht im über­tra­gen Sinne son­dern unmit­tel­bar als Form, zum Beis­piel in Deaf­con No. 1. Dort existiert ein Zwiespalt des bild­lichen Raumes zwis­chen dem Selb­st­por­trait auf der linken und dessen Schat­ten auf der recht­en Seite, par­al­lel dazu aber auch eine Unstim­mig­keit zwis­chen der Körper­hal­tung des Selb­st­por­traits, den recht­en Arm erhoben, und dem Schat­ten, der beide Armen nah am Körp­er hält. Wir müssen fol­gerichtig auch eine Leer zwis­chen dem Selb­st­por­trait und dessen Maler in Betracht ziehen.


In Der Unentschiedene Mann gibt es eine gan­ze Reihe sol­ch unver­wech­sel­barer Ungereim­theiten in den zahlreichen, Mag­ritte-arti­gen Reflex­ion­en der sitzenden, nack­ten Frau. Darüber hinaus besteht noch die Bezugslosigkeit zwis­chen den wieder­hol­ten, rund­för­mi­gen Spiegel­un­gen auf der linken und der opaken, unfer­ti­gen Scheibe auf der recht­en Seite. Der unentschiedene Mann, der den Raum zwis­chen den Mehr­fach­spiegel­un­gen und der sitzenden Fig­ur ein­nim­mt, steht so da, als ver­suche er sich reflekti­er­end zwis­chen mindes­tens zwei Mög­lich­keiten zu entscheiden.

©2009 Tom Huhn | Aris Kalaizis


Dr. phil. Tom Huhn, geb. 1957, unter­richtet Ästhet­ik und Philo­soph­ie an der School of Visu­al arts in New York City. Er ver­öf­fent­lichte u.a. "Imit­a­tion and Soci­ety: Per­sist­ence of Mimes­is in the Aes­thet­ics of Burke, Hog­ar­th and Kant" (2004). Huhn lebt in New York City

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