Aris Kalaizis

Der Umweg als Weg zur Einheit und Ordnung

Die New York­er Kun­stkritiker­in Car­ol Strick­land prägte in Bezug zu dem Neue Leipzi­ger Schule – Maler, Aris Kala­izis, hier erst­mals den Begriff des Sot­toreal­is­mus. Darüber hinaus find­en sich dar­in ein­ige interess­ante Bild­deu­tun­gen zu den amerik­an­is­chen Bildern

Aris Kalaizis, Keyville, Öl auf Holz, 60 x 90 cm, 2006
Aris Kalaizis, Keyville, Öl auf Holz, 60 x 90 cm, 2006

„Erst ein guter Leser macht ein gutes Buch“, sagte der amerik­an­is­che Schrift­s­teller Ral­ph Waldo Emer­son. Das Gleiche gilt für ein gutes Bild. Je kom­plex­er und vielschichti­ger ein Bild – immun gegen ein schnelles, ober­fläch­liches Lesen – desto mehr erfordert es ein­en wach­samen Rezipi­en­ten. Der Betrach­tung, der Bes­in­nung und der Reflex­ion fol­gend, blüht das Bild im Geist. Es ist gerade diese evokat­ive Qual­ität, welche die Begegnung mit Aris Kala­izis’ Bildern so spannend macht.


Jedes Bild eröffnet dem gründ­lich Betrachtenden neue Wel­ten; dies über­ras­cht auch nicht, denn der Leipzi­ger Maler Kala­izis ben­utzt in der Kon­struk­tion sein­er Kom­pos­i­tion mul­tiple Aus­führung­sarten. Gleich einem Bühnen­bild­ner wählt er zun­ächst jeden Gegen­stand klug aus. Dann arran­giert er diese im Bil­draum derart, so dass die Objekte, die Fig­uren sow­ie der Raum zwis­chen ihnen mit Intens­ität vibri­er­en. Gleich einem Dre­hbuchautor kon­stru­iert er ein mit Dram­atik und internem Kon­f­likt gespeistes Tableau und füllt so den Schauplatz mit ein­er geladen­en Span­nung. Mit dem Auge eines Per­fek­tion­isten führt er Regie; er kal­ib­riert sämt­liche Ele­mente für ein­en max­i­m­alen visuel­len Effekt. Und natür­lich, gleich einem vollkom­men­en Maler, holt er aus Farben, Lini­en, For­men und Gestalt die größt­mög­liche Wirkung­skraft her­vor. Aus Pig­men­ten und Struk­turen schafft er Ein­heit und Ord­nung, allerd­ings immer mit der im Entstehen begrif­fen­en Dro­hung, dass dieses Gleichgewicht aus­ein­ander fallen könnte.


…Form, Farbe und Struk­tur als eine Art Saatbeet


Kala­izis’ Meth­ode begin­nt mit ein­er inner­en Vis­ion – ein­er zun­ächst nur wagen Ahnung, welche er im später­en Ver­lauf zu erkun­den sucht. Erst sucht er nach einem tat­säch­lichen Schauplatz – ein­er Bühne gleich, auf welch­er er sein­en Träumereien Raum geben kann. Dann foto­grafiert er diese Kulisse. Und, indem er als Fil­ter zwis­chen Real­ität und eigen­er Erfind­ung fungiert, rein­igt er den Hin­ter­grund, elimin­iert unnötige Details und holt Ele­mente seines „Dre­hbuchs“ her­vor, die seine Bild­neuschöp­fung prä­gen wer­den. In diesem Prozess ent­deckt er Über­ras­chun­gen, die den Schauplatz sein­er Hand­lung­se­volu­tion beeinflussen.
Er will in diesem lang­wi­eri­gen Entwicklungs­ver­lauf nicht den Anstrich der äußer­lichen Ober­fläche elimin­ier­en, viel­mehr ver­steht er Form, Farbe und Struk­tur als eine Art Saat­beet, aus wel­chem sein Konzept erst erwach­sen kann. Wenn ein Bild vorschnell auf eine allzu deut­liche Darstel­lung hin­zusteuern scheint, formiert er seine Absicht­en neu und macht das Bild schwer­er fass­bar. Die Real­ität, die er darstellt, ist keine wirk­liche Real­ität, son­dern viel­mehr eine neue kon­stru­ierte. Kala­izis sagt: „ Ich interessiere mich nicht dafür was ist, son­dern dafür, was sein könnte“. 


Wenn Kala­izis all­mäh­lich eine Geschichte vor seinem geisti­gen Auge ima­giniert, bedarf er dafür meist Fig­uren. Dazu foto­grafiert er Menschen, die er dann in seine Bild­szen­er­ie einbaut.
Er hält ein­en Aus­schnitt aus dem Leben fest, indem er ein­en Moment, dessen Bedeu­tung im Ver­borgen­en liegt, in ein­en Still­stand ver­set­zt. Denn die äußer­liche Ruhe ver­birgt die Aufruhr im Inner­en – gleich ein­er harm­losen Flosse, die durch die azurblaue tropis­che See schwim­mt und den um seine Beute kreis­enden Killer­hai verbirgt.


…Die Real­ität, die er darstellt, ist keine wirk­liche Real­ität, son­dern viel­mehr eine neue konstruierte


Betrachtet man ein Bild von Kala­izis einge­hend, wirkt es, als ob man einem zwei­di­men­sionalen Bild eine dritte Dimen­sion hin­zufügte. Der Betrachter wird aus ein­er pass­iven Betrach­tungs­sicht heraus­geris­sen und in eine akt­ive Teil­nahme geführt. Diese impliz­ierte Erzäh­lin­ter­pret­a­tion wird jedoch erst durch ein­en wach­samen Betrachter her­vor­gerufen und mög­lich­er­weise vervollständigt.
Das Bild Keyville (2006) ver­an­schau­licht, wie die Kraft sein­er Malerei den Betrachter enga­giert. Die Szene hat die beun­ruhi­gende Qual­ität ein­er Piazza von de Chirico – angereich­ert mit packenden Anspielun­gen, einem Gefühl der Dro­hung und rät­sel­hafter Assozi­ation­en. Hier ist ein selt­samer Tat­be­st­and der eigent­liche Drehpunkt des Bildes, denn ein orange­farben­er Schal liegt ver­lassen im vorder­en und mit­tler­en Bereich. Darüber baumelt ein nicht aufgelegter Tele­fon­hörer, so als ob die Träger­in des Schals in großer Eile den Ort ver­ließ. War sie zu erschüt­tert von der Nachricht, die sie über das Tele­fon empfan­gen hat, den Hörer aufzule­gen? Wurde sie wegen eines ander­en Not­falls gerufen? Wurde sie entführt?


Die zen­t­rale Leer­stelle wird an den Seiten eingeklam­mert; auf der ein­en von ein­er Statue eines Sold­aten – dieser hält ein Gewähr und seine Hal­tung drückt Hand­lungs­bereit­schaft aus, und auf der ander­en von einem sitzenden Mann, der sich kein­er Gefahr zu wähnen scheint. Ein warm­er Farb­ton ver­bind­et drei schein­bar ver­schiedene Sequen­zen (geteilt durch sen­krechte Stan­gen). Die röt­liche Kur­ve auf der linken Seite führt zum ros­a­farben­en Sock­el, auf wel­chem die Statue steht, hin zur ent­ge­gen geset­zten Kur­ve des orange­farben­en Schals, welch­er die bei­nahe gleiche Farb­nu­an­ci­er­ung der Holzbank auf­weist, auf der gelassen ein Zigar­ette rauchender Mann sitzt.


Sowohl Inhalt als auch Struk­tur wer­fen schwer zu fassende Fra­gen auf: Fiel die Frau einem Gewalt­ver­brechen zum Opfer, das weder der Stein­sold­at, noch der teil­nahmslose Mann ver­hindern kon­nten? Der Betrachter fragt sich: „Was geschah vor und was wird nach dieser Szene ges­chehen?“ Unvoll­ständigkeit ist die ton­angebende Strategie, welche den Betrachter in die Welt des Malers zieht, ihn in Zweifel ver­sinken lässt.


Am Ster­be­b­ett von Ger­trude Stein stellt der Autor die Frage: “Wie lautet die Anwort?“ Ihre Ant­wort darauf: „Wie lautet die Frage?“. So sind denn auch für Kala­izis die Fra­gen wichti­ger als die Antworten.
Selbst die Land­schaften von Kala­izis sind von abstrak­tem Kom­pos­i­tions­bau, auch sie haben eine rät­sel­hafte und zur Inter­pret­a­tion ein­ladende Qual­ität. The Olentangy River II (2005) scheint eine fried­volle, herbst­liche Szene widerzus­piegeln; die Bäume in der Ferne und der­en Reflex­ion wer­den mit der Fer­tigkeit eines Vir­tu­osen darges­tellt. Dann bemerkt man die Beton­spitzen ein­er Boot­s­rampe, die wie scharfe Dol­che über dem Wasser schweben und die Ruhe erschüt­tern. Die selt­sam ruder­för­mige Beton­masse, die im Vorder­grund auf dem Wasser treibt, fügt eben­falls eine wider­sprüch­liche Nachricht bei und löst dabei eine Dialektik zwis­chen der natür­lichen und der vom Menschen geschaf­fen­en Welt aus. Die erste Reak­tion ist ein Seufzer, die zweite ein Schaudern.

Broad Street No. 100 | Öl auf Holz | 45 x 60 cm | 2005
Broad Street No. 100 | Öl auf Holz | 45 x 60 cm | 2005

Kala­izis ist ein Maler der Gegensätz­lich­keiten. Er stößt und schubst an, er erweckt die eigene Phant­as­ie, um auf die seine reagier­en zu können. In Broad St. No. 100 (2005) baumelt wieder ein Tele­fon­hörer, dies­mal in ein­er Tele­fonzelle, in welch­er ein Körp­er zusam­men­sinkt und dessen Kopf sich außer Sicht­weite befin­d­et. Schläft der junge Mann, steht er unter Dro­gen oder ist er etwa tot? Neben der beset­zten Zelle erstreck­en sich drei weit­ere sterile Tele­fonzel­len. Ein uni­formiert­er Pol­izist taucht dro­hend im Vorder­grund auf, sein Gesicht eine unheim­liche Maske, seine Hal­tung gleicht einem treuen Dien­er der Amts­ge­walt. Doch was die straffe Gleichung der zel­len­arti­gen sen­krecht­en For­men erschüt­tert, ist das Bild des Pol­izisten, der wie Lady Macbeth mit Wider­wil­len auf die Fin­ger sein­er Hand star­rt. Man fühlt sich genötigt zu fra­gen: „Was geht denn hier vor?“.


…Maler der Gegensätzlichkeiten


Rub­ba­cord (2005) geht sog­ar noch weit­er in den Bereich der Absurdität hinein. Stürmis­che Wolken bilden hier ein­en Wir­bel über ein­er Treppe, die in ein Nir­gend­wo zu führen schein­en, während eine pur­purne See bei schein­bar steigender Flut auf ihr­em sitzt. In ein­er Beton­wand ist ein orange­farbenes Rechteck plat­ziert, indem der sinn­liche, nackte Körp­er ein­er Frau zur Schau ges­tellt wird. Ihr abgeschnitten­er Kopf spiegelt sich umgedre­ht auf dem nas­sen Asphalt. Das Bild stellt harte und weiche Ober­flächen, gerade Lini­en und Kur­ven, belebte und unbelebte For­men, beweg­liche und unbe­weg­liche Massen gegenüber. In dieser stürmis­chen Szene wirken Reflex­ion­en und Schat­ten unsin­nig. Dem Bild fehlt es an Mensch­lich­keit, doch es sprießt voller Geheimnisse. 


Kala­izis’ bra­vouröser Umgang mit der Farbe muss erwäh­nt wer­den. Er ist ein Meister in der Darstel­lung von Beton. Über­wie­gend wird Beton als eine stumme, matte – bis hin zur bru­talen – Ober­fläche darges­tellt. Wenn Kala­izis Beton malt, dann führt er seine Pin­sel­striche mit sacht­en, pas­tell­farben­en Schwün­gen, die in ihr­er fein­en, sub­ti­len Art und Weise an ein Bild von Mor­ris Louis erinnern. 


Ein Schlüs­sel zu den ver­borgen­en Absicht­en des Malers liegt in der wieder­kehrenden Bilder­sprache. Wie Alfred Hitch­cock seine Sig­na­tur set­zt, indem er in jedem sein­er Filme in ein­er win­zi­gen Neben­rolle auftritt, so taucht diese per­sön­liche Ikono­graph­ie immer wieder auf. Ein Lieblings­motiv ist die Fig­ur ein­er schwarz gekleide­ten Frau mit einem orange­farben­en Kopftuch, die eine schwar­ze Handtasche trägt. 
Diese Fig­ur, die auf Kala­izis’ Frau Annett basiert, erscheint in The Ohio Hotel (2006) – ihr Rück­en ist dem Betrachter zugewen­det, ihr Blick abge­wandt, ihre Handtasche in ein­er ver­wun­d­bar anmutenden Stel­lung. Ihr gegenüber, dem Blick des Betrachters zuge­wandt, steht ein ver­wildert anmutender Mann, der in dro­hender Gebärde ein­en Base­ball­schläger hält. Kala­izis teilt den Raum zwis­chen den beiden Fig­uren (Prot­ag­on­ist und Ant­ag­on­ist?) durch ein­en bed­roh­lich wirkenden Schat­ten, der von einem riesigen Baum auf ein mit grel­len Farben gemaltes Gebäude gewor­fen wird. Der Mann steht hinter ein­er schwar­zen Form, die ein­er Welle gleicht und wie weich­er Asphalt aus­sieht, während die Frau auf einem schneebedeck­ten Feld geht, welches ein­er pur­pur­roten See ähnelt. Aber auch hier ergibt nichts ein­en Sinn, doch spürt man, dass sich die Frau in Gefahr befin­d­et. Der Betrachter fühlt sich dazu ver­p­f­lichtet, die Assozi­ationsleer­stel­len auszufüllen.

Ein Nachmittag in Upper Arlington | Öl auf Holz | 45 x 60 cm | 2005
Ein Nachmittag in Upper Arlington | Öl auf Holz | 45 x 60 cm | 2005

An After­noon in Upper Arling­ton (2005) wirkt ähn­lich beun­ruhi­gend. Der Titel des Bildes deutet auf die Tageszeit hin. Doch das pur­pur­rote Licht und die Dunkel­heit, die von ein­er hel­len Lampe erleuchtet wird, an welch­er sich ein schein­bar ungezäh­mter Mann klam­mert, weis­en para­dox­er­weise auf eine nächt­liche Szene hin. Eine offene Aktentasche – als ob der­en Inhalt geplündert wurde – liegt auf dem Boden neben dem Mann, dessen Augen ver­bor­gen bleiben.
Die Szene ver­mit­telt eine geheim­nisum­wobene Stim­mung, doch die helle Kugel des Lichts wirkt wie ein Zeichen der Klar­heit. Der Lampen­pfahl ist im eigent­lichen Sinn ein Geh­stock, auf den sich der Mann stützt, um Halt zu erlangen.


Das Bild erin­nert an ein Kala­izis Gemälde aus dem Jahr 2004, Die Lich­tung. Der deutsche Titel wurde ins Eng­lische mit The Enlight­en­ment – die Erleuchtung/​Aufklärung – über­set­zt. Hier star­rt die Tochter des Malers in ein Don­ald Judd ähn­liches Arrange­ment aus Licht­wür­feln, so, als ob sie nach der Ant­wort auf die Fra­gen des Lebens sucht. Die Lich­tung kann auch ins Eng­lische als The Clear­ing – eine Wald­lich­tung – über­set­zt wer­den. Dies kann von den aufge­laden­en zen­t­ralen Orten, die in vielen von Kala­izis Arbeiten auftauchen, abgeleitet wer­den – gleich einem offen­en, ver­schwunden­en Ort, ein­er Lich­tung, in welch­er unter­gründige Bedeu­tun­gen im Auflodern des Licht­es wohnen könnten.


Kala­izis’ Bilder ähneln in ihr­er Rät­sel­haftigkeit den sur­real­istischen Bild­wel­ten eines René Mag­ritte, wenn er ein­er­seits ein­en hal­breal­istischen Bil­draum malt, aber ander­er­seits diesen mit einem unlo­gis­chen, stets beun­ruhi­genden Inhalt füllt.

Mit wun­der­schön wiedergegeben­en Bäu­men und mit dem meister­haft darges­tell­ten Por­trait eines traum­ver­loren­en Mannes, der sich an ein­en Buchen­baum lehnt, ist das Bild Das Heim (2005) nahezu eine Glan­zleis­tung der wirk­lich­keit­s­na­hen Darstel­lung. Doch len­kt Kala­izis diese ruhige Szene in eine andere Rich­tung; zuerst mit sein­er Graf­fitikritzelei, ein­er Blume an der Wand eines klein­en Holzhauses, dann auf ein­en hinter dem Fen­ster stehenden Körp­er ein­er nack­ten Frau, welche ein­er unter­getaucht­en Wassernymphe in einem Aquar­i­um gleicht. Sehn­sucht, aber auch Ein­samkeit durch­fluten die Szenerie.


…„Das Bege­hen von Umwe­gen ist ein wichtiges Merkmal mein­er Arbeit“


„In dem Moment, wo das Bild eine span­nung­sarme Fre­und­lich­keit auf­weist“, sagt Kala­izis, „möchte ich den Schrank mit den Gift­pil­len öffn­en.“ Und gerade wenn man glaubt ver­standen zu haben, was er sagen will, ändert er im Zick­z­a­ck­kurs die Rich­tung. Er sagt dazu: „Das Bege­hen von Umwe­gen ist ein wichtiges Merkmal mein­er Arbeit“. Strotzend vor Dop­peldeut­igkeit ver­sprechen seine Bilder zu enthül­len, was sie doch ver­ber­gen. Aber selbst bei genauer Unter­suchung sind ihre vielfälti­gen Bedeu­tungsschicht­en unerschöpflich.
Viel­leicht ist ein neuer Begriff für die Bes­chreibung sein­er Arbeit bezeichn­ender als die Begriffe Real­is­mus oder Sur­real­is­mus. Anstelle von „sur“, dies bedeutet „über“ oder „ober­halb“, ist „Sot­toreal­is­mus“ hier passender. „Sotto“ („unter­halb“ oder „unter“) weist auf die in ein­er Fabel ver­borgen­en Geheim­n­isse hin, die unter der Ober­fläche der Geschichte ver­g­raben sind – hinter den for­m­alen Ele­men­ten: Farbe, Linie, Gestal­tung und Komposition. 
Will man eine Erklärung für das, was in dieser schrul­li­gen, vom Maler geschaf­fen­en Welt geschieht, ans Licht brin­g­en, muss man tief bohren. Seine Land- und Stadtland­schaften sind eher Traum­bil­der – räum­lich ver­wir­rend, eigen­wil­lig und bizarr.
Häufig ist seine Bil­dar­chitek­tur streng, erdrückend und kalt; die Fig­uren wirken träge, entkräftet und ein­sam. Anstatt sich zu begegnen und zu ver­ständi­gen, sind sie in getrennten Bereichen eingeschlossen, diese Situ­ation wird durch die ras­ter­arti­gen Hin­ter­gründe verstärkt. 


Die Stunde der unnachahm­lichen Offen­bar­ung (2005) ist ein gutes Paradigma (Beis­piel) für diese Eis­bergstrategie – in welch­er 90% der Geschichte ver­bor­gen sind. Das Bild zeigt ver­schiedene Menschen, die um ein­en leer­en Tisch sitzen. Es hat die Kur­i­os­ität ein­er Szene von Balthus oder von Manets Déjeuner sur l’herbe, denn während vier der Fig­uren voll­ständig bekleidet sind, sitzt eine nackte Frau aus­druck­slos in der­en Runde. Die Fig­uren teilen den Bil­draum, aber sie wirken wie Schaufen­ster­pup­pen – zusam­men­han­glos und ein­ander fremd. Ihre Gesichter sind aus­druck­slos und ver­mit­teln den Zus­tand der Anomie, wie eine mel­an­chol­ische Film Noir-Inszen­ier­ung. Der Titel deutet Aufklärung an, wie in einem Bild Caravaggio’s, wo sich Jesus sein­en Jüngern als Emmaus offen­bart. Aber mit den ver­bün­deten Frauen (zwei Frauen mit identischen Gesichtern, eine weit­ere wider­sprüch­liche Mit­teilung) auf der ein­en Seite des Bildes und den Män­nern auf der ander­en Seite, ist der aus­gespielte Krieg zwis­chen den Geschlechtern die ein­zig impliz­ierte Enthül­lung. Die Fig­uren strah­len Ambi­gu­ität aus, welche im aus­brechenden Unter­grund des Dra­mas ver­wurzelt ist.
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Die Kunstwelt schen­kt gegen­wärtig ein­er Rich­tung viel Beach­tung, die „Leipzi­ger Schule“ genan­nt wird und von der Leipzi­ger Hoch­schule für bildende Kün­ste und ihr­em heraus­ra­genden Lehr­er, Arno Rink, kul­tiviert wird. Kala­izis stud­ierte unter Rink, war dessen Meister­schüler. Es wird gesagt, dass diese Maler den Real­is­mus neu erschaf­fen haben, indem sie gegen­ständ­liche Arbeiten mit erzäh­len­dem Inhalt und ein­er zeit­genöss­is­chen Tendenz erzeugen.
Gemein­hin wird gesagt, dass seit den 1960er Jahren im West­en die avant­gardeau­s­gerichteten Kun­st­schu­len tra­di­tion­elle Lehr­meth­oden ver­lassen haben, bei den­en eine handwerk­liche Solid­ität des Malens, einsch­ließ­lich Zeichnen nach Mod­ell, Ana­tom­i­estud­i­en sow­ie Beherrschung der Per­spekt­ive, ver­mit­telt wurde. In Leipzig verblieb die Ver­mittlung dieser Fer­tigkeiten auf dem Lehr­plan. Was Kala­izis anbe­langt, so ben­utzt er sein aus­gezeich­netes malerisches Rüstzeug nicht bloß für eine rein ver­an­schau­lichende Malerei, son­dern er erzeugt viel­mehr ein hybrides Kunstereignis, indem er das Beste des Alten mit dem Besten des Neuen kom­bin­iert und ergänzt.


Seit dem Beginn der Mod­erne betrieben Künst­ler vor dem Eisernen Vorhang ein atem­beraubendes Tempo in punkto Exper­i­mentier­en: Abstrak­tion, in welch­er Authen­t­iz­ität, emo­tionaler Aus­druck und Form­al­is­mus abso­lut war­en, dann Min­im­al­is­mus, Pop-Art, konzep­tuelle Kunst, Per­form­ance, Install­a­tion und noch gegen­wärti­ger – New Media Art, wie z.B. digit­al manip­ulierte Foto­grafie und Video Art.
Kala­izis bor­gt Utensi­li­en von ver­schieden­en zeit­genöss­is­chen Kun­strich­tun­gen. Aber er arbeitet sie bei sein­er Erkundung von erken­nbar­en Gegen­ständen um. Er ents­tellt dam­it das Bekan­nte fremd und passt diese an seine Erforschung an und wird somit unend­lich evokat­iv. Er arbeitet mit dem Blick eines Film­re­gis­seurs und unter Ver­wendung der Foto­grafie, die zum Arsen­al dieses Malers gehört. Wie bei ein­er Per­form­ance oder den sich wider­sprechenden Anord­nun­gen ein­er Install­a­tion ver­langt die Arbeit von Kala­izis die Beteili­gung des Pub­likums, um die von ihm darges­tell­ten unheim­lich schön­en Wel­ten zu inter­pretier­en. Seine Pas­sion und seine Vor­stel­lung­skraft ent­fachen die Neu­gi­er des Betrachters, auf diese Weise wird der Beo­bachter dazu gezwun­gen, zum Mitschöp­fer und Decod­ier­er zu werden.


…ver­langt von den­en, die seine Werke betracht­en, nichts geringeres, als der­en voll­stes Engagement


Nicht umsonst zit­iert Kala­izis ein­en Satz Thomas Bernhards: „Die wesent­lich­sten Dinge lie­gen im Verborgenen.“

Was inhalt­lich in Kala­izis’ Bildern ein­bezo­gen ist, ist natür­lich bedeut­sam. Aber auch der leere Raum ist fast spürbar und ebenso wichtig, wie die Gegen­stände selbst. Die Szen­er­i­en sind voller Mög­lich­keiten: „Ein­en Ort zu find­en ist meine Leidenschaft, wo man das Gefühl hat, etwas, was bish­er noch nicht war, kön­nte entstehen“, wie Kala­izis ein­mal bes­chrieb. Mit seinem Sinn für Form­schöp­fun­gen errichtet er massiven Raum aus sich kreuzenden Ver­tikalen, Hori­zontalen und Diag­onalen. Und doch fällt immer etwas aus dem Gleichgewicht, irra­tion­al – gleich einem sicher­en Ort für unsichere Ideen.


Ungeachtet dav­on, wie bed­ro­hend ein­ige sein­er Arbeiten wirken, bauen die Ans­prüche, die an den Betrachter ges­tellt wer­den, um ihre Rät­sel lösen zu können, auf das Ver­trauen in das mensch­liche Poten­tial. Kala­izis’ Malerei ist nicht leicht. Er schraubt das geistige Niveau sein­er Ideen nicht herunter.
Die Arbeit ist gründ­lich, hart erkäm­pft und schwer gewonnen. Er ver­langt von den­en, die seine Werke betracht­en, nichts geringeres, als der­en voll­stes Engagement.


Die Belohnung ents­pricht der Mühe. Kala­izis hofft, dass Einsicht­en wie auch Zweifel auf­blühen mögen, so wie die helle Blume erblüht, die immer wieder in sein­en Bildern auftaucht. Es ist eine schwere Last, die ein Bild zu tra­gen hat, aber Kala­izis sagt über seine Kunst: „Ich möchte, dass sie in Lebens­be­jahung gip­felt, in Versöhnung“.
Wir wer­den wohl niemals die Wider­sprüche, die kon­stru­ier­ten Gegensätze in sein­en Bildern auflösen, doch wenn diese uns aufwüh­len und uns zwin­gen, eigene Ant­worten auf seine Fra­gen zu find­en, dann sind sie meister­lich gelungen.

Aris Kalaizis und Carol Strickland (NYC, 2007)
Aris Kalaizis und Carol Strickland (NYC, 2007)

©2006 Car­ol Strick­land | Aris Kalaizis


Dr. Car­ol Strick­land, geb. 1946, fre­is­chaf­fende Kun­stkritiker­in, arbeitet für mehr­ere amerik­an­is­che Zei­tun­gen und Magazine. Sie ver­öf­fent­lichte u.a. mit "The Annot­ated Mona Lisa" (2007) ein Buch der Kun­st­geschichte und Architek­tur. Strick­land ist ver­heir­at­et mit dem Bio­chemiker Sid­ney Strick­land. Sie lebt und arbeitet in New York City

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