Der Triumph des Subjekts über den Vatikan
Die Psychoanalytikerin Fotini Ladaki unternimmt anhand des Bildes "make/believe" von Aris Kalaizis einen überraschenden Deutungsversuch, in dem sie Benedikt den XVI. und seine Abkehr vom Amt letztlich als handelndes Subjekt begreift.
„Wenn in manchen meiner Erzeugnisse Grauen die Grundlage ist, dann behaupte ich, dass das Grauen nicht aus Deutschland, sondern aus der Seele stammt.“ (E.A. Poe:“ Tales“, 1840)
2009 malte der Leipziger Maler Aris Kalaizis das kleinformatige Bild make/believe. Abgebildet ist Papst Benedikt XVI., der mit offenen Armen wie in einer empfangenden oder grüßenden Geste einem Gast entgegen zu eilen scheint. Hinter dem Papst stehen Vertreter der katholischen Macht und Kardinäle. Auf seiner rechten Seite patrouilliert ein Schweizer Gardist. Auf der anderen Seite steht ein zeitgenössischer männlicher Engel mit großen Flügeln und weist in seiner Bewegung hin auf einen anderen, möglichen Weg.
… ein zeitgenössischer männlicher Engel mit Flügeln weist einen anderen Weg
In der Komposition erinnert das Bild von Hans Holbein dem Jüngeren „Die Gesandten“ aus dem Jahr 1533. Dort sind die reichen Kaufmänner mit ihrem ganzen Prunk repräsentiert. Kleider, Schmuck, Gegenstände demonstrieren die Macht des Reichtums und Wohlstands. Bis auf einen verborgenen Gegenstand, der auf der Erde liegt. Es handelt sich um ein Schild. Nur von einer ganz bestimmten Perspektive erblickt man die Darstellung auf dem Schild. Es handelt sich um einen Totenschädel. Dieses nackte Symbol aus dem Haufen der Leichen und Ossuarien deutete auf das memento mori hin, auf die Vergänglichkeit des Menschen und natürlich auf seinen Tod. Alles ist vergänglich, denn das letzte Hemd hat keine Taschen. Dieser eindeutige Hinweis des memento mori ist auf dem Bild von Kalaizis nicht vorhanden. Über seinem Bild aber schwebt ein ganz anderer Diskurs und es scheint, als schwebe in ihm auch ein anderer Himmel. Der Himmel des Vatikans.
Handelt das Bild nun um eine gar epiphanische oder telepathische Vorwegnahme des Künstlers von etwas, was vier Jahre später geschehen sollte?
Vier Jahre nach Fertigstellung des Gemäldes verzichtete Papst Benedikt XVI. auf die Fortführung seines Amtes. Soweit so gut. Aber es gibt eine ganze Liste von Päpsten, die ebenfalls auf ihr Amt verzichten mussten. Und es waren stets innerpolitische und Machtimperiale Gründe. Nur ein einziger verzichtete darauf, Coelestin V., weil er wieder Eremit sein wollte. Sein Grab besuchte Benedikt XVI. zweimal vor seiner Entscheidung. Aber aus ganz profanen Gründen, wie das Alter und der damit einhergehenden Schwäche zu verzichten, hat es in der Geschichte der Päpste noch nicht gegeben. Es gibt viele Regionen in Italien, wo Benedikt XVI: bereits von der Oberfläche verschwunden ist.
…da auch das Unbewusste wie eine Sprache konstituiert ist, geht es ausschließlich um Sprache. Deswegen existiert zwischen Kirche und Psychoanalyse eine Unverträglichkeit
Gut möglich, dass er eines Tages ganz von der List der Päpste gestrichen wird. Denn eine solche Entscheidung brachte den Diskurs des Vatikans und der katholischen Macht mit ihren kanonisierten Phantasmen völlig aus den Fugen. Denn ein Papst hat nur durch sein natürliches oder sogar manchmal unnatürliches Scheiden (Giftmorde hat es genug gegeben) den Stuhl Petri zu verlassen. Die Entscheidung lag alleine in der Macht der Kurie.
Aber Benedikt XVI. handelte so, wie nur ein psychoanalytisches Subjekt nach Lacan handeln konnte. Natürlich klingt in dem Wort Subjekt das Wort der Unterwerfung (Sub-jectus). Auch das Subjekt der Psychoanalyse ist ein unterworfenes Subjekt. Nur, dass die Gesetze des Unbewussten ganz anderes gelagert sind als die des Vatikans. Das Subjekt der Psychoanalyse ist ein Sprachwesen (parl-être nach Lacan).
Da auch das Unbewusste wie eine Sprache konstituiert ist, geht es nun ausschließlich um Sprache. Deswegen existiert zwischen der katholischen Kirche und der Psychoanalyse eine nicht aufzulösende Unverträglichkeit. Während in der Psychoanalyse stets über Gott als den großen Anderen, wie auch über die religiöse Erziehung gesprochen wird, hätte die Kirche die Psychoanalyse am liebsten nicht nur verboten, sondern längst schon exkommuniziert.
Lacan behauptete nicht umsonst, dass die Reichen und die Katholiken nicht analysierbar seien. Was tut also Benedikt, der Gesegnete oder der guter Redner? Er begeht einen Akt. Er trennt sich eindeutig von dem Amt und stellt eine Grenze zwischen Amt und der Identifizierbarkeit. Lacan behauptete nicht nur der Bettler sei verrückt, wenn er behaupte, er wäre en König, sondern der König selbst ist ebenfalls verrückt, wenn er sich mit diesem Titel identifiziert.
Slavoj Zizek bringt es auf den Punkt:
„Der Herr-signifikant (S1) ist definitionsgemäß „leer“ und der „Meister“ ist derjenige, der, aus reinem Zufall, diesen leeren Platz einnimmt. Aus diesem Grund ist der Meister im Grunde genommen, d.h von Natur aus ein Betrüger: Der Meister erzeugt die Illusion, dass sein Sein als Meister aus seinem inhärenten Charisma stammt und nicht aus der akzidentiellen Besetzung eines bestimmten Platzes in der Struktur.“ (S. Zizek: „Ein Triumph des Blicks über das Auge. Psychoanalyse bei Hitchcock“)
Eine Trennung zwischen Subjekt und Amt ist aber nicht akzidentiell, nicht zufällig. Ihr geht ein wahrer Akt voraus. Diesem Akt ist immer eine Dringlichkeit eingeschrieben. Nach Lacan begeht das Subjekt eine passage à l´acte. Auch ein Suizidversuch oder ein Selbstmord zählen zu dieser Art von Akt.
…das macht den Akt im eigentlichen Sinn aus, dass das Subjekt vorher und nachher nicht mehr das gleiche ist
Jacques Alain Miller sagt Folgendes dazu:
„So wird nun jeder wahre Akt im Sinne Lacans, sagen wir es, ein ‚Selbstmord des Subjekts‘: Man kann das zwischen Anführungszeichen setzen, um zu zeigen, dass es daraus wiedergeboren. Das macht den Akt im eigentlichen Sinn aus, dass das Subjekt vorher und nachher nicht mehr das gleiche ist. Das rechtfertigt den Terminus Veränderung (Mutation)…. ..dass jeder wahrhaftige Akt, jeder Akt, der nicht nur Erregung, Regung, motorische Abfuhr ist, jeder wahre Akt, jeder Akt, der prägt, der zählt, Übertretung ist. … man beobachtet in der Geschichte, dass es keinen wahren Akt gibt, der nicht ein überschreiten enthält: ein Überschreiten wovon? Eines Kodes, eines Gesetzes, eines symbolischen Ganzen…“
Etwas später bringt er noch einen weiteren wichtigen Punkt:
„Im Kern eines jedes Aktes ist ein nein, dass gegen den Anderen hervorgestoßen ist. Und das rechtefertigt eigentlich die Definition Lacans, dass der Akt immer an die Stelle eines Sagens tritt. Im Grunde ist ein Akt ohne ein Danach, ein Akt an sich“.
Benedikt wagte nun wie das sprechende Subjekt zu handeln. Benedikt stellt sich auf den Status des Subjekts der Psychoanalyse und eskamotiert (weginterpretiert) damit den Mystizismus der Kirche und die Gesetze des Konzils. Damit tritt er nach Lacan an die Stelle des sprechenden Subjekts. Läuft nun Benedikt XVI. auf dem geheimnisvollen Bild von Aris Kalaizis nur dem Gast-Gespenst seines eigenen Aktes entgegen? Triumphiert er letztlich über den eigenen Akt? Denn der Akt nach Jacques Alain Miller, weil er mit der passage á l´act zu tun hat, ist immer eine Gasse (passé). Er muss den realen Ausweg finden, um sich zu vollbringen.
Visualisiert nun das Bild von Kalaizis diese geheimnisvolle Gasse zwischen dem Schweizer Gardisten als den Vertreter der politischen Überwachungs-Macht und dem Engel auf der anderen Seite als das Symbol der himmlischen Ordnung nach dem vatikanischen Prinzip?
Stellt der Künstler nach dem Mittel der Ikonographischen Visualisierung die notwendige Gasse dar, durch die Benedikt passieren musste, um dem Triumph seines eigenen Aktes zu begehen?
So wurde es wieder Licht. Und es wurde der Mensch. Denn der Mensch zeichnet sich durch die Sprache und den Logos aus.
…Kunst einen telepathischen Akt? Die Telepathie zählte Freud nicht zu der Psychoanalyse, da sie nicht dem Unbewussten und damit nicht dem Inneren entstammt
Benedikt handelte anders als Moses. Er überlässt sich nicht den Kräften des Vatikans, die es häufig gegeben hat, damit der postulierte Gottesdiskurs in seinem Mystizismus verteidigt werden könnte.
Vollbringt hier die Kunst einen telepathischen Akt? Die Telepathie zählte Freud nicht zu der Psychoanalyse, da sie nicht dem Unbewussten und damit nicht dem Inneren entstammt. Sie kommt stets von außen. Gibt es aber auch ein Inneres des Äußeren?
Auch die Kunst hat Moral, auch wenn sie nicht immer mit den Moralismen der Kirche einhergeht. Hat die Kunst von Aris Kalaizis dieses ungewöhnliche Ereignis geahnt? Schlüpft Kalaizis womöglich in die Gestalt Benedikts XVI., um unter anderem die wahre Souveränität zu demonstrieren?
Hat Velazquez mit dem Bild „Las Meninas“ nicht Ähnliches vollbracht? Er hat sich als den wahren Souverän in den Vordergrund gestellt. Nicht der König ist der wahre Souverän. Nach Velazquez ist der Künstler der wahre souverän, da er aus dem creare ex nihilo schöpft, wie einst Gott es auch getan haben soll. Hat deswegen Joyce die Kunst anstelle Gottes gestellt?
Hat Benedikt XVI. im Sinne der katholischen Kirche eine Hybris begangen? Hat er den mystischen Platz der vatikanischen Ethik mit seinem Akt in Frage gestellt? Und hat damit nach Lacan die Botschaft geprägt, dass es keine Anderes des großen Anderen gibt?
„Wir wissen, wie es mit Erde und Himmel steht, beide sind leer von Gott, und die Frage ist, wie man das wissen kann, was wir in den Disjunktionen erscheinen lassen, die unsere Techniken konstituieren.“ (J. Lacan: „Der Triumpf der Religion“, Turia und Kant, 2006, S.43) Als begehrendes Subjekt hat Benedikt gesündigt. Aber nicht nach Lacan, der in seinem Seminar „Die Ethik der Psychoanalyse“ behauptet: „Die Gesetze des Himmels, um die es geht, sind wohl die Gesetze des Begehrens.“
Und auch ein anderer Satz von Lacan hätte in diesem Zusammenhang seine Gültigkeit, wenn er behauptet, dass das sprechende Subjekt nur dann ein Verrat gegen sich selbst begeht, wenn er nicht seinem Begehren folgt.
Literatur:
Jacques Lacan, „Der Triumph der Religion“, Turia und Kant, 2006, S. 43
Jacques Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse, Seminar Buch VII, Quadriga, 1996, S. 388
Jacques-Alain Miller: „Von einem anderen Lacan“, Turia und Kant, 1994, S. 102 – 105)
Slavoj Zizek: „Ein Triumph des Blicks über das Auge. Psychoanalyse bei Hitchcock“, Turia und Kant, 1998, S. 220
Fotini Ladaki, geb. 1952 in Nordgriechenland, ist Psychoanalytikerin (nach Lacan und Freud) und arbeitet in ihrer Praxis in Köln. Darüber hinaus arbeitet sie rege als freie Autorin. So verfasste sie neben vielen Essays über Kunst und Psychoanalyse, Theaterstücke, Erzählungen und Lyrik auch ein Essay über Gerhard Richter „Moritz“, sowie "Der Schrecken des Sehens als Daseinserfahrung "oder etwa „Freud kam nach Parla-Dora“. Ihre weiteren Publikationen sind unter folgender Webseite zu finden: www.praxisfls.de
©2017 Fotini Ladaki | Anna Popoulias | Aris Kalaizis